Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Büchern und Bildern, mit Präparaten und Stößen von Zeitschriften vollgeräumten Wohnung, in der selbst die Bildschirme zweier Computer aussahen, als stammten sie aus dem neunzehnten Jahrhundert, herrschte stets ein Zwielicht. Und stets überfiel mich eine angenehme Müdigkeit, wenn ich in einen der tiefen Polstersessel glitt und Little Face begann, mir zu erzählen, womit er gerade beschäftigt war. Wobei er, glaube ich, überhaupt keine Rücksicht auf mein Alter nahm. Er sprach mit mir, als wäre ich ein Erwachsener. Und zwar ein gebildeter. Was dazu führte, daß ich nur wenig von dem verstand, was er mir darlegte. Aber es klang einfach gut: geheimnisvoll und wesentlich. Als wären dagegen die Dinge, die zwei Stockwerke darunter meine Eltern und den Rest der Menschheit beschäftigten, völlig unwichtig. Als würde alles Fundamentale allein im Kopf dieses Mannes kreisen, Mikrokosmos und Makrokosmos, die sichtbaren Gewänder des Normalen und die unsichtbaren des Paranormalen.
Als ich einmal fragte, was denn eigentlich sein Beruf sei, sagte er: »Allesforscher.«
»Was ist das?«
»Wonach klingt es?« fragte er zurück.
»Hm, also entweder erforschen Sie etwas, daß das Alles ist, oder Sie erforschen alles .«
Er lächelte mich an. Aus der Ferne seines Gesichts fiel dieses Lächeln wie ein Segen auf mich herunter. Offensichtlich gefiel ihm meine Antwort. Aber er ließ sie unkommentiert. Und ich kann sagen, daß es mir noch einiges Kopfzerbrechen bereitete, mir eine Sache vorzustellen, die man als das Alles bezeichnen konnte. Während natürlich viel einfacher war, sich schlichterdings einen Universalgelehrten zu denken, für den kein Wissensgebiet unwichtiger war als ein anderes und der mit dem gleichen Interesse ein Mickymaus Heft studierte wie eins dieser Bücher, die man als »schwer« bezeichnete, damit aber nicht ihr Gewicht meinte.
Sämtliche Dinge zu erforschen war sicher anstrengend genug, aber wie kompliziert mußte es erst sein, etwas zu entdecken, in dem sich alles zu einem Alles vereinte. (Viele Jahre später stieß ich auf den Begriff der »Weltformel«. Ich stellte mir gerne vor, daß das, woran Little Face geforscht hatte, etwas Ähnliches gewesen war. Und ich stellte mir mindestens so gerne vor, daß es ihm gelungen war zu entdecken, wonach er so lange gesucht hatte.)
Meine Eltern freilich meinten, der Mann sei einfach ein Spinner. Wobei sie ihn aber wohl für harmlos hielten. Hätten sie denn ansonsten erlaubt, daß ich ihn besuchte? (Ich will jetzt nicht so weit gehen zu sagen, es wäre ihnen gleichgültig gewesen, ob der Mann, bei dem ihr Erstgeborener seine Zeit zubrachte, gefährlich war oder nicht.)
Ich begegnete Little Face das erste Mal, als ich sechs war und er mir im Innenhof unseres Hauses half, meinen Papierflieger so weit zu korrigieren, daß dieser auch flog. Und wie der flog! Kein Wunder, daß ich diesen Mann sogleich mochte.
Das letzte Mal, als ich ihn sah, war ich dreizehn. Er hatte auf mein Läuten hin die Tür nicht geöffnet. Was noch nie vorgekommen war. Allerdings wußte ich um einen Entlüftungsschacht, der seine fensterlose Küche mit einer kleinen Terrasse verband, die vom Stiegenhaus aus zugänglich war, dort, wo früher die Mieter ihre Teppiche ausgeklopft hatten. Die Tür zur Terrasse war entgegen der Vorschrift meist offen. Auch diesmal. Ich kletterte in den Schacht und robbte voran. Was keine Premiere war. In all den Jahren hatte sich Little Face immer wieder mal ausgesperrt und mich dann um Hilfe gebeten. Und in all den Jahren hatte ich ganz gut durch die enge Röhre gepaßt. Wobei das eigentlich der geeignete Job für meine Schwester gewesen wäre, doch sie hatte mit Little Face nie etwas zu tun gehabt. Little Face war einzig und allein mein Allesforscher gewesen.
So gelangte ich also in die Küche und von der Küche in den Wohnraum. Dort sah ich Little Face auf dem breiten Sofa. Den Mund leicht geöffnet. Seine Haut ein graues Tuch. Die rechte Hand war gegen die seitliche Lehne gestützt, die andere ruhte auf den Knien. Es sah aus, als hätte er versucht, im Moment des Todes das Gleichgewicht zu halten, sich bemüht, nicht umzukippen oder gar auf den Boden zu fallen. Er war im Sitzen gestorben. Ein Herr!
Ich ging ganz nahe an ihn heran, hielt mein Ohr an seinen Mund. Aber da war kein Atemwind, nur ein Geruch. Kein schlimmer Geruch, nichts Verschimmeltes, nur etwas Verwelktes. Gut, er war wohl noch nicht lange tot.
Ich zitterte. Aber nicht, weil ich mich
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