Der Allesforscher: Roman (German Edition)
fürchtete oder geschockt war von dem Anblick. Der Tod machte mir keine Angst. Um so mehr, als ich von der Existenz eines Jenseits genauso überzeugt war wie davon, daß Little Face dort drüben unvermittelt seine Allesforschung fortsetzen würde. Nein, ich zitterte, weil ich nun allein war. Der einzige Mensch, bei dem ich mich geborgen gefühlt hatte, war gegangen. Und mit ihm würde sowohl die Möglichkeit enden, von diesen Zimmern aus das poetische Dächermeer von Köln zu betrachten als auch eine Ahnung vom »Alles« zu erhalten.
Tatsächlich wurde die Wohnung des alten Mannes alsbald vollkommen ausgeweidet, ein weiteres Geschoß oben aufgesetzt und das Ganze in eine todschicke Wohnmaschine verwandelt, in die sodann ein Anwalt samt seiner Kanzlei einzog. Gar keine Frage, dies war der Ursprung meines umfassenden Hasses gegen Advokaten.
Erstaunlich ist sicher, daß der wissenschaftliche Samen, den Little Face in mich gepflanzt hatte, so wenig fruchtete. Vielleicht auch, weil die Keimungsbedingungen nach seinem Fortgang recht ungünstig waren. Mit meinen dreizehn Jahren geriet ich in das Fahrwasser der Normalität. Der Anpassung. Das bißchen Ungepflegtsein, das bißchen laute Musik, das bißchen Verachtung für die Welt erschienen bloß wie eine Krankheit, die ich herausschwitzte. Aus dem Puppenstadium meiner Pubertät und Adoleszenz entlassen, war ich der perfekte Geschäftsmann, ein rasierter, gescheitelter, schlanker, flotter Anzugträger. Ein Träger randloser Brillen und stets schwarz glänzender Schuhe: eine zum Businessman verwandelte Lackdose.
Anders Astri. Nicht, daß sie eine Revoluzzerin wurde. Dazu hätte die Welt sie kümmern müssen. Was nicht der Fall war. Ich hörte sie nie vom Klima sprechen oder über tote Delphine jammern. Sie redete auch später – wenn wir uns bei den Familienfesten trafen – nicht über die Arbeitsbedingungen in Südostasien, dort, wo ich mein Geld machte. Etwas, was mein Vater mit Vorliebe tat. Er schien sich extra zu erkundigen, wußte exakt die Höhe der Hungerlöhne, wie viele Arbeiterinnen jährlich umkamen oder aus Schwäche in Ohnmacht fielen, redete über Kindersterblichkeit, Prostitution …
Oft war es Astri, die ihn bat, damit aufzuhören.
Dennoch fand ich Astris Kletterei einfach blöde. Sich einer Gefahr auszusetzen. In der Halle war es okay, aber am freien Berg – bedroht von der Eigenwilligkeit des Wetters – ein Wagnis ohne Zweck.
Und dann, 2002 , fiel sie. Man könnte sagen: Sie fiel in die Arme jenes Gottes, gegen den sie um die Wette geklettert war.
Woraufhin also meine Eltern ihr Elternleben beendeten, während ich selbst bei Weyland Europe eine neue Familie gefunden hatte. Denn genau das stellen die großen Unternehmen, die Konzerne, die Gesellschaften dar: Familien. Was ja auch der Grund dafür ist, daß der Begriff der Loyalität eine solch wichtige Rolle spielt. Die Verbundenheit mit den Ideen und Zielen des Unternehmens. Die Bereitschaft, absolut alles mitzutragen, was das »Familienvermögen« erhöht. Familien wollen immer, daß es ihren Mitgliedern gutgeht. Dazu scheint unweigerlich zu gehören, daß es anderen Familien schlechtgeht.
Aber Weyland war vorbei. Ich war jetzt mein eigenes Familienunternehmen. Und mein einziger »Mitarbeiter« war Simon. So wie ich der seine.
14
»Komm jetzt«, sagte ich und zeigte hinüber zu den Hürden. Doch Simon hörte nicht auf, mich auf den Kletterberg aufmerksam zu machen. Ich versuchte ihm zu verstehen zu geben, daß ich diese Konstruktion sehr wohl beachtet hätte, es damit aber auch genug sei. Aber es war nicht genug. Ich erkannte die Verzweiflung in Simons Gesicht. Den Schatten. Den Zorn. Die Träne, die über seine Wange glitt.
Ich sagte »Okay!« und nickte. Ohne noch genau zu wissen, worin mein Zugeständnis bestehen würde. Aber Simon lächelte. Entweder weil er das Wort verstand oder den Klang des Wortes oder einfach das Nicken richtig interpretierte. Jedenfalls wischte er sich die Träne aus dem Gesicht und folgte mir hinüber zu den Hürden, die ich wieder einsammelte. Er half mir dabei. Er war jetzt ganz willig, ganz fröhlich, als ersparte ich ihm, Krötenfleisch zu essen. Um statt dessen eine Torte zu servieren. Ja, die Torte war in seinem Fall der Klettergarten, zu dem wir uns nun hinüberbewegten. Allerdings war es nötig, außen herumzugehen, um auf den Vordereingang des Kletterzentrums zu stoßen. Einen Moment geriet Simon in Panik, weil er dachte, wir würden uns vom Ziel
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