Der Allesforscher: Roman (German Edition)
erkoren hatte, zu ihrem Heiligen. – Blumen an den Fuß dieses Felsens zu legen, wie Kerstin es vorgeschlagen hatte, erschien mir plötzlich als notwendiger Akt, um ein Versäumnis zu bereinigen.
Obgleich nun Kerstin keine Bergsteigerin war und auch niemals eine werden würde, so hatte ich dennoch das Gefühl, als seien in ihr die beiden toten Frauen meines Lebens vereint: Astri + Lana = Kerstin. Ein Eindruck, den ich Kerstin gegenüber verschwieg. Dennoch geschah es, daß ich sie am nächsten Tag einmal mit dem Namen meiner Schwester und einmal mit dem Namen von Simons Mutter ansprach. Beim zweiten Mal schüttelte sie vergnügt den Kopf und fragte mich: »Hättest du mich lieber tot?«
Ich antwortete mit einem »Nein!«, froh darum, die Wahrheit aussprechen zu dürfen. (Wenn der Mensch zwischen zweimal und zweihundertmal täglich lügt, stellt sich erst recht die Frage, wie oft er eigentlich am Tag die Wahrheit sagt und ob das nicht weit mehr wiegt als die hilflose Flunkerei, die unseren Alltag tapeziert – wobei wir ja gut darum wissen, daß es sich um eine Tapete handelt.)
Eine Wahrheit bestand nun leider auch darin, daß Kerstin, als sie nach München kam, vom Tod eines jungen Mannes erfuhr, mit dem sie eine platonische Beziehung geführt hatte. Wobei sich dieser Mann durchaus mehr gewünscht hatte. Er war in einer – wie man so sagt – unsterblichen Weise in Kerstin verliebt gewesen, während sie selbst seine Nähe geschätzt und nicht zuletzt ein zärtliches Gefühl für ihn empfunden hatte, aber ihre Liebe zu ihm war wie die zu einem Bruder gewesen. Das war schon Jahre so gegangen und mußte ihm eine Qual bereitet haben, eine Qual, um die Kerstin gewußt, die sie ihm aber auch nicht hatte ersparen können. Dennoch war für keinen von beiden eine Trennung in Frage gekommen. Zumindest keine profane Trennung.
Dieser junge Mann, Erich, hatte sämtliche seiner Antidepressiva in einem großen Glas Whisky aufgelöst, das Glas leer getrunken, sich ins Bett gelegt und sich die Pulsadern aufgeschnitten. – Herrje, ich würde vorher in Ohnmacht fallen, bevor ich mir mit einer Rasierklinge die Haut öffnen könnte.
Nicht so Erich. Er wollte auf diese Weise sterben und tat es auch. Der eigene Tod war das Gefäß, in dem die Unsterblichkeit seiner Liebe auch wirklich ewig fortdauern konnte. Und obgleich mir die Art seines Suizids Gänsehaut bereitete, konnte ich ihn dennoch verstehen. Wer, wenn nicht ich?
Eine Ironie des Schicksals bestand nun darin, daß, wenn man die Angaben der Polizei glaubte – und das tat Kerstin –, sich Erich in der exakt gleichen Stunde umgebracht hatte, als Kerstin und ich das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Nicht, daß Erich davon hatte wissen können. Wie denn auch? Nein, die Idee, sich das Leben zu nehmen, mußte schon länger bestanden haben. Die Verteilung seines Nachlasses war akkurat vorbereitet worden. Dazu eine aufgeräumte Wohnung, vier verschiedene Abschiedsbriefe fein säuberlich kuvertiert auf den Schreibtisch gelegt, gegossene Pflanzen, entleerter Müll. Und – allen Ernstes – Trinkgeld für die Leute des Bestattungsunternehmens. Vom vielen Blut einmal abgesehen, konnte man sagen, daß nur wenige Menschen – auch unter den Selbstmördern – so geordnet aus dem Leben schieden wie Erich.
Mit mir hatte das also nichts zu tun. Es war nicht Eifersucht gewesen, sondern unerhörte Liebe. Dennoch, der Umstand, daß die beiden Ereignisse – Erichs Tod und unsere Liebesnacht – so präzise zusammenfielen, machte Kerstin zu schaffen.
»Es ist nun mal so. Ich kann dir das nicht erklären«, sagte sie am Telefon und kündigte an, eine Weile allein sein zu wollen. Das sei sie Erich schuldig.
»Gar nichts bist du ihm schuldig«, erwiderte ich, »außerdem ist das jetzt wirklich zu spät.«
»Wofür ist es zu spät? Zu trauern? Oder meinst du, ich sollte ebenfalls ein Jahrzehnt damit warten?«
»Ich dachte eigentlich, du würdest mir genau dabei helfen. Mich in die Berge begleiten. Mich und Simon.«
»Das geht jetzt nicht.«
»Wir könnten gemeinsam trauern«, schlug ich hilfloserweise vor.
»Unsinn, Sixten.« Sie sagte es ganz sanft. Doch die Sanftheit war ein massiver Block. Keiner, den man bouldernd überwinden konnte. Und dann fügte sie an: »Gib mir Zeit.«
»Natürlich«, sagte ich. Und dachte mir: »Gegen einen Toten ist man chancenlos.«
Und das stimmte. Sowenig es Erich zu Lebzeiten gelungen war, vollständig und absolut in Kerstins Herz
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