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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Atlas hoch und reichte ihn Auden.
    »Laß den Mann in Frieden«, mahnte die Mutter, die gar nichts verstand.
    »Schon okay«, versicherte Auden und lächelte gütig. Dann betrachtete er die Karte, die mit »Süddeutschland, Schweiz« überschrieben war. Allerdings gehörte der von dem Jungen am rechten Rand eingekreiste Ort zum westlichen Teil Österreichs. Der Name der Stadt: Innsbruck.
    Innsbruck also.
    Auden war noch nie dort gewesen. Doch er wußte, daß diese Stadt in Tirol lag, in einem Tal mit Flughafenanschluß, eine von mächtigen Gebirgszügen freundlich eingekerkerte Landeshauptstadt, die erstaunlicherweise für ein Dach berühmt war, kein helles, flaches Nutzdach, natürlich nicht, sondern eins in Gold. Eine aus feuervergoldeten Kupferschindeln bestehende Abdeckung eines Erkers, den man an ein älteres Gebäude angefügt hatte, so, wie man heutzutage Lifte und Wintergärten und die hübschen Logos von H&M und ZARA und Peek & Cloppenburg auf die alten Fassaden klebte. Und damals eben – zwecks Einläutung der Zeitenwende – diesen stark dekorierten Erker samt einer Goldmedaille, die sich selbst ehrt.
    »Danke, mein Junge«, sagte Auden und stand auf. Er hörte noch, wie die Mutter fragte: »Was wollte der Mann von dir?«
    »Na, daß ich seinen Atlas anmale.«
    »Kunstsammler oder Psychiater«, sagte die Mutter. Es klang, als meine sie es ernst.
    Auden begab sich in sein Schlafwagenabteil, öffnete das Fenster und warf sein Handy samt der Pistole hinaus.
    Jetzt sollten die Amerikaner mal versuchen, seine Position festzustellen. Oder die Franzosen oder Japaner oder …
    Er blickte hinaus auf die weite, leere Landschaft. Die Wüste. Sein altes Leben war nun ohne Wasser und würde langsam verdursten. Leider auch sein Name, Auden. Das war es, was ihm am meisten weh tat. Nie wieder Auden zu heißen.



20
    Es war wie im Krieg, nur friedlicher – aus den geplanten zwei Wochen wurde ein ganzes Jahr.
    Zur Erinnerung: Als Kerstin mich fragte, ob wir zu dritt – sie und Simon und ich – das übernächste Wochenende nutzen wollten, um den Berg aufzusuchen, an dem meine Schwester zehn Jahre zuvor ums Leben gekommen war, da drückte ich ihr als Antwort einen Kuß auf die Lippen.
    Weniger, weil ich begierig war, mir diesen Berg anzuschauen, aber durchaus begierig, zusammen mit dieser Frau und meinem Sohn eine Reise anzutreten. Für den Moment der Reise eine »Großfamilie« zu sein. Und vielleicht auch darüber hinaus.
    Wie günstig darum, daß sie meinen Kuß erwiderte, heftig erwiderte. Und so fügte sich eine Liebkosung an die andere, und wir bewegten uns Arm in Arm in Richtung meines Schlafzimmers. Allerdings löste ich mich auf dem Weg dahin kurz von ihr und schaute zu Simon, ob es ihm auch gutging.
    »Was tust du?« flüsterte Kerstin, die hinter mir im Türrahmen stehengeblieben war.
    Ich war jetzt tief über das schlafende Kind gebeugt, mein linkes Ohr gegen seinen Mund gerichtet, und hielt mir die Hand in Form eines Trichters an meine Ohrmuschel. Sein Atem war kaum zu hören, so leise ging er, aber er ging. So war das eben. Mitunter schnarchte Simon im Stile eines alten Säufers, dann wieder vernahm ich bloß ein sachtes Schnaufen oder den gleichförmigen Austausch der Kinderzimmerluft.
    Als ich zu Kerstin zurückkam und wir die Tür schlossen, sagte ich: »Ich wollte nur nachsehen, ob er atmet.«
    »Also, für einen plötzlichen Kindstod ist er schon zu alt, oder?«
    »Ich weiß, es ist lächerlich. Aber ich kann nicht anders. Ich muß immer wieder mal sichergehen, daß alles okay ist.«
    »Und wie lange willst du das durchziehen? Ich meine, jetzt hat er noch ’nen superfesten Schlaf, aber irgendwann wird er alt genug sein, daß er aufwacht, wenn du dich so auf ihn drauflegst.«
    »Ich leg mich nicht auf ihn drauf«, korrigierte ich.
    »Na fast«, sagte sie und meinte dann: »Aber du könntest das bei mir machen. Ich lasse gerne bei mir nachprüfen, ob ich noch atme.«
    »Mit Vergnügen«, nickte ich, nahm ihre Hand und führte sie ins Schlafzimmer.
    Ein wenig hatte ich gefürchtet … nein, nicht gefürchtet, sondern bloß erwartet, daß sie mir nun erklären würde, sich nicht vollständig ausziehen zu wollen. Ja, ich hatte mit einer Wiederholung im Stile Lanas gerechnet, einer deutlichen Parallele zwischen der Frau, die Simon auf die Welt gebracht hatte, und der Konsulatsangestellten, die Simons Reise und Adoption begünstigt hatte. Doch Kerstin sprang mit großer Leichtigkeit aus ihrer gesamten

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