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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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werden!«
    Die Hälfte von dem, was sie auf ihrem Weg nach vorn zu hören bekam, hatte nichts mit der Gedenkstätte zu tun. Es war, als hätten zwei Jahre der Frustration, der Trauer und der Wut jetzt ein Ventil gefunden.
    »Drei Wochen, haben die vom Roten Kreuz gesagt –«
    »Was sie uns angetan haben –«
    »Ein Muslim –«
    »Schützen die Fluggesellschaften, die uns nicht geschützt haben –«
    »Psychotherapie, jeden gottverdammten Freitag –«
    »Sie hassen uns –«
    »Ein Riesenschwindel –«
    »Eine Religion der Gewalt –«
    Claire versuchte zu antworten, wurde immer wieder niedergeschrien und gab schließlich auf. Ihre Unterarme kribbelten, aber sie bemühte sich, Gelassenheit auszustrahlen. Sean marschierte mit jenem elastischen Gang über die Bühne, bei dem sie immer an einen jungen Mann denken musste, der versuchte, älter zu wirken, einen kleinen, der sich größer geben wollte, oder einen armen, der sich bemühte, einen wohlhabenderen Eindruck zu machen. Von Weitem wirkten seine Augen schläfrig, als hätten sie sich in die Hautkissen darunter eingekuschelt, aber aus der Nähe waren sie wachsam. Wachsam und misstrauisch. Was der Grund dafür war, dass sie sich seit ihrer Berufung in die Jury so um ihn bemüht hatte, wenn auch nur, um ihn zu beschwichtigen. Die beflissenen Telefonanrufe, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Die bedauernd-flirtenden Blicke (zu kokett, nach jenem ungewollten Kuss zu urteilen), die andeuteten, wenn die Dinge anders wären, wenn sie sich nicht unter diesen Umständen begegnet wären, wenn, wenn, wenn … Es war ein Fehler gewesen, ihn nicht anzurufen, als die Neuigkeit publik wurde. Das war ihr jetzt klar. Als sie die Stufen zur Bühne hinaufging, warf sie ihm einen Blick zu, der ausdrücken sollte, dass er es nicht schaffen würde, die Menge unter Kontrolle zu bringen. Wie gehofft provozierte dieser Blick ihn dazu, ihr das Gegenteil zu beweisen.
    »In Ordnung, in Ordnung«, rief er und hielt eine Hand hoch, bis Stille eintrat. »Claire ist hier. Hören wir uns an, was sie uns zu sagen hat.«
    »Vielen Dank, Sean. Es tut mir leid, dass ich so spät komme, aber ich habe erst vorhin von diesem Treffen erfahren«, sagte sie. Sie hätte hinzufügen können: Und zwar, als ich mit meinen Kindern nach Hause kam, mit denen zusammen ich eine Wegspur für meinen toten Mann gelegt hatte; ich musste mich von ihnen verabschieden, mich umziehen und den ganzen Weg in die Stadt zurückrasen wie eine Verrückte, nur um mich von Ihnen allen anschreien zu lassen. Doch das behielt sie für sich. Stattdessen sagte sie: »Vielen Dank, dass Sie heute gekommen sind. Ihr Interesse an der Gedenkstätte ist überwältigend und bestätigt, was für eine große, hehre Aufgabe wir als Jury zu erfüllen haben. Ich kann und darf heute nicht in Einzelheiten gehen, aber lassen Sie mich fragen: Wer von Ihnen liebt Gärten?«
    Verwunderte Blicke huschten durch das Publikum. »Keine Bange, das ist keine Fangfrage. Heben Sie die Hand, wenn Sie Gärten lieben. Ja, auch die Männer. Mein Mann hatte keine Angst zuzugeben, dass er Gärten liebte.«
    Langsam hoben sie die Hände, erst die Frauen, dann auch eine ganze Reihe Männer. Als Claire mit dem Ergebnis zufrieden war, sagte sie: »Genau das wird die Gedenkstätte sein. Ein Garten. Es ist einfach perfekt. Ein Garten.«
    »Und was ist mit dem Muslim?«, fragte Sean in kämpferischem Ton.
    »Ich kann nicht über Gerüchte diskutieren, und um ehrlich zu sein, weiß ich so gut wie nichts über die Person, die den Entwurf eingereicht hat, da die Ausschreibung anonym war. Aber ich weiß, wie schön und wie ergreifend der Garten ist und dass er die Menschen, die wir geliebt haben, ebenso heraufbeschwört wie die eingestürzten Gebäude. Daher hoffe ich, dass Sie sich ihm nicht verschließen werden.«
    »Ich habe mich den Muslimen gegenüber an dem Tag verschlossen, an dem sie meinen Bruder umgebracht haben«, rief Sean.
    »Ich verstehe«, sagte Claire. »Wir alle hatten mit diesen Gefühlen zu kämpfen. Aber wenn wir uns dadurch verändern lassen, haben die anderen gewonnen.«
    »Die Toiletten – wissen Sie, wo sie sind?«, fragte Claire die erste Person, der sie hinter der Bühne begegnete, eine Frau mit streng kurzgeschnittenen grauen Haaren, die auf sie zu warten schien. Der Applaus, den sie bekommen hatte, als sie die Bühne verließ, war ihr ein wenig zu Kopf gestiegen. Sie hatte das Publikum dazu gebracht, die Vorstellung eines Gartens als

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