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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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tun, als hätte er sich so unerschrocken verhalten wie Patrick, hätte er die Gelegenheit dazu gehabt. Hätte er vor einem Gebäude gestanden, aus dem Flammen und Rauch leckten, wäre er so schnell gerannt, wie er gekonnt hätte. Vielleicht wäre das nicht einmal falsch gewesen. Denn Patrick, der in ein Gebäude hineingestürmt war, das fast im selben Augenblick über ihm zusammenbrach, hatte drei Kinder mit todtraurigen Augen zurückgelassen.
    Gouverneurin Bitman nahm Seans Hand und riss sie in einer Geste des Triumphs hoch, während von irgendwoher eine rockige Version von »America the Beautiful« erklang. Einen Augenblick später war sie verschwunden, eine Kielwelle aufgewühlter Luft hinter sich herziehend.
    Wieder im Besitz des Mikrofons versuchte Sean, die Aufmerksamkeit seines Publikums zurückzugewinnen. Auf der Bühne hin und her gehend sagte er: »An dem Abend, an dem die Entscheidung über die Gedenkstätte fiel, saßen die Juroren in Gracie Mansion und tranken ihren Dom Pérignon. Als sie merkten, dass sie sich für einen Muslim entschieden hatten, sagten sie: ›Wow, Wahnsinn! Was für eine Botschaft an alle Muslime! Es wird ihnen sagen, dass wir ihre Freunde sind, dass wir nichts gegen den Islam haben. Wieso denn auch? Was hat der Islam uns denn schon getan?‹« Wissendes, bitteres Lachen aus dem Publikum. »›Und die Familien?‹, werden sie dann gesagt haben. ›Ach, die werden sich schon daran gewöhnen.‹ Nicht einmal unsere angebliche Vertreterin in der Jury – Claire Burwell – hat sich mit uns in Verbindung gesetzt.«
    Dass das besonders bitter für ihn selbst war, behielt er für sich. Claire, die wusste, dass Seans Unterstützung entscheidend für jede Gedenkstätte war, die die Jury auswählte, hatte ihn im Vorfeld richtiggehend umworben. Dass ihm das bewusst war, hatte die Wirkung der Aufmerksamkeit, die sie ihm zuteilwerden ließ, kaum gemindert. Nach einem der Treffen zwischen Jury und diversen Familienmitgliedern hatte sie Sean, der wie üblich kein Blatt vor den Mund genommen hatte, auf ein Bier eingeladen. Als er sagte, er trinke nicht, schien sie ein wenig aus dem Konzept gebracht, als habe sie damit gerechnet, dass der Alkohol ein Band zwischen ihnen schmieden würde. Sie bestellte trotzdem ein Bier, nippte daran, als wäre es Wein, und löcherte Sean mit Fragen. Er war beeindruckt von ihrer Schönheit, ihrem Reichtum, ihrer Intelligenz; noch nie hatte er eine Frau mit so vielen Vorzügen getroffen. Zum Schluss – nach zwei Bieren für sie, drei Colas, die ihn ganz hippelig machten, für ihn – beugte er sich vor und drückte ihr einen Kuss auf, nur um sich selbst zu beweisen, dass er es konnte. Sie wehrte ihn nicht ab, nahm den Kuss, sichtlich angespannt, einfach hin, nach wie vor darauf bedacht, es sich nicht mit ihm zu verscherzen. Für seine Selbstachtung wäre es besser gewesen, wenn sie ihn zurückgestoßen hätte. Sie war zehn Jahre älter als er, sagte sie. Er solle seine Jugend nicht an sie vergeuden. Er würde sie da vergeuden, wo er wollte, hatte er geantwortet.
    Das war das Ende aller realen körperlichen Kontakte gewesen, aber nur der Anfang vieler vorgestellter. In den folgenden Monaten projizierte er Claire wie einen Film an die Decke seines Schlafzimmers, wo früher Poster von Victoria’s-Secret-Models geklebt hatten, auf die 50:50-Chance hin, dass seine Mutter nicht hochsehen würde. Er zog Claire aus wie seine Nichte ihre Papierpuppen, nahm sie auf jede nur erdenkliche Weise. Dass sie verhalten mit ihm flirtete, wenn sie sich begegneten, war nichts im Vergleich zu diesen Fantasien und las sich folglich immer wie eine Zurückweisung. Diese gemeinsame Geschichte – in der Wirklichkeit und in der Fantasie – verstärkte die Kränkung, als sie sich nicht bei ihm meldete.
    »Dafür bin ich jetzt hier«, rief eine Stimme im hinteren Teil des Raums. »Claire Burwell.« Er entdeckte sie am Eingang der Aula. Die zweite Frau für heute, die ihm die Schau stahl. Claire hatte nicht auf seine Nachricht wegen des Treffens reagiert und ganz offensichtlich auf den Überraschungseffekt gesetzt. Voller Groll beobachtete er, wie sie betont langsam durch den Gang nach vorn kam.
    »Sagen Sie uns, dass es nicht wahr ist«, rief eine Stimme aus der Dunkelheit. Dann schrien Dutzende von Stimmen auf sie ein. Schrapnelle, die sie zerfetzten. »Ist es wahr? Ist es wahr? Sagen Sie es uns!«
    »Wie konnte das passieren, Claire?«
    »Sagen Sie, dass Sie es verhindern

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