Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
Vom Netzwerk:
Schlefskis Zettel entziffern können. Nun stand ich vor dem Haus, eine ehemals stattliche, jetzt heruntergekommene Villa, deren schmutzig brauner Putz in Placken von den Wänden fiel. Gleich hinter dem Haus floss die Elster vorbei, in der Nähe gab es eine Grünanlage.
    Die Klingeltafel und die Postkästen verrieten, dass inzwischen acht Parteien das Anwesen bewohnten. Es mussten winzige Wohneinheiten sein. Ich fuhr mit einem Finger die Namen entlang und ging sie sogar noch ein zweites Mal durch. »Lewinsky« stand hier nirgends.
    Kurzentschlossen klingelte ich einfach irgendwo. Das Haus hatte keine Gegensprechanlage. So starrte ich auf die Haustür, in der Erwartung, sie jeden Augenblick aufgehen zu sehen. Stattdessen öffnete sich ein Fenster im ersten Stock und eine Frau mit kurzem, braunem Haar rief: »Ja, bitte?«
    »Ich möchte zu Frau Lewinksy. Sie wohnt doch hier?«
    »Da kommen Se aber spät.«
    »Warum?«
    »Na, die ist doch gestorben. Aber das ist inzwischen bestimmt drei, dreieinhalb Jahre her.«
    »Oh.«
    »Um was geht’s denn?«
    »Ich    … bin auf der Suche nach ihrem Sohn, Tom Lewinsky.«
    »Na, da klingeln Se man bei Werther. Das ist ja die …« Sie zögerte einen Moment, dann räusperte sie sich und sprach weiter: »Na, eben sowas wie die Schwiegertochter von der verstorbenen Frau Lewinsky.«
    Das Fenster wurde wieder geschlossen, ohne Gruß.
    Nervös drückte ich auf den Klingelknopf mit dem Namen »Werther«. Als sich nichts tat, versuchte ich es noch einmal und dann noch einmal. Aber auch nach dem vierten Klingeln öffnete niemand.
    Enttäuscht trottete ich zurück zum Volvo, setzte mich hinein und dachte nach. Dabei sah ich unablässig zu dem Haus hinüber, tastete es mit meinem Blick ab und fragte mich, hinter welchen Fenstern »die Schwiegertochter« wohl wohnen mochte. War »die Schwiegertochter« Lewinskys Frau?
    Ich würde es später noch einmal versuchen. Den Volvo ließ ich stehen und machte mich zu Fuß auf den Weg in Richtung Innenstadt. Im nächstbesten Lokal aß ich zu Mittag und schlenderte dann ziellos durch die Straßen. Die  Wolken, die noch in Magdeburg ein Gewitter oder zumindest etwas Regen versprochen hatten, waren gewichen. Ein strahlender Streifen Azur grüßte schon wieder gnadenlos.
    Vor der Thomaskirche empfing mich der Duft von Lindenblüten.Ich betrat den kühlen Innenraum. Hier wurde gerade eine Stimmprobe abgehalten. Orgelklänge und engelsgleicher Gesang erfüllten alles. In einer der hinteren Reihen klappte ich einen Sitz herunter und sah mich um. Das Deckengewölbe war von roten Rippen durchzogen, die Kreuzpunkte von Strahlen und Ranken ummalt. Prächtige bunte Fenster rechts ließen die Mittagssonne herein. Sie beschien das Abbild von Martin Luther.
    Ich schloss die Augen. Ich war unendlich müde. Nun drehte sich alles. Die Musik lullte mich sanft und feierlich ein, obwohl sie immer wieder von Stimmen der Besucher durchmischt wurde. Am anderen Ende der Kirche referierte eine Fremdenführerin ihren vorgefertigten Text. Langsam versank ich.
    Ich schreckte auf. Jemand hatte mich an der Schulter gestreift. Es war ein Mann. Er entschuldigte sich lächelnd.
    Ich erhob mich und ging nach vorne, vorbei an einem rätselhaften Gemälde, auf dem zehn Frauen in Nonnengewändern zu sehen waren. Ihre Lippen hielten sie hinter weißen Schals verborgen.
    Am Gebetskreuz blieb ich stehen und las Gebete auf Deutsch und Englisch. Mein Blick glitt über chinesische Schriftzeichen, über kyrillische. Wieder musste ich an meine Russlandreisen denken. Ich spürte Tränen aufsteigen, kam mir albern vor und schluckte sie hinunter. Würde ich jemals herausfinden, was für ein Mensch ich früher gewesen war und was ich alles getan hatte?
    Vielleicht lag es an den beflügelnden Orgelklängen. Jedenfalls hatte ich plötzlich einen Geistesblitz. Ich kramte in meiner Hosentasche nach einem Stück Papier, fand einen alten Kassenzettel mit umgeknickten Ecken, lieh mir von der Fremdenführerin einen Kugelschreiber und schrieb meinen kindlichen Wunsch auf die Rückseite des Kassenbons:»Bitte, lieber Gott, schenk mir mein Gedächtnis wieder.«
    Später, viel später las ich einmal, man solle sich vor seinen Wünschen hüten. Sie könnten in Erfüllung gehen.
     
    Nach Stunden schloss sich die Wolkendecke. Ich war froh, dass ich bereits im Volvo saß, als es zu tröpfeln begann. Der Regen brachte die lang ersehnte Abkühlung mit sich. Wie heute Vormittag hielt ich auch nun wieder meine

Weitere Kostenlose Bücher