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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
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dass ich nun vor jeder Ecke mit traumwandlerischer Sicherheit wusste, wie es dahinter aussehen würde?
    Diese Irrfahrt auf
bekannten
Wegen würde mich noch um den Verstand bringen! Ich fühlte mich unsäglich einsam. Wie sehnte ich mich nach einer väterlich warmen Stimme, die mir gut zureden würde. Nach einer beruhigenden Hand auf meinem Rücken. Meine Gedanken wanderten. Väterlich … Vater! Meine Eltern! »Eltern« klang wie ein Fremdwort für mich.
    Ich entsann mich einer Unterhaltung, die ich mit Anouk geführt hatte – ein Gespräch, in dessen Verlauf ich herausbekommen wollte, wie ich als Kind wohl meinen Vater und meine Stiefmutter erlebt haben mochte.
    Anouk hatte freilich nur aus zweiter Hand antworten können. Meinen Vater hatte Anouk niemals kennengelernt. Er war ja 1970 bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Meiner Stiefmutter Margarete war Anouk offenbar auch nicht gerade oft begegnet. Das Verhältnis zwischen Margarete und mir musste sehr distanziert gewesen sein. Vor einigen Jahren war Margarete außerdem nach Mallorca gezogen und damit gänzlich aus unserem Blickfeld verschwunden.
    Als einzige Informationsquelle war Anouks Gedächtnis geblieben. Und so hatte sie sich während meiner Reha in Kalifornien die Mühe gemacht, alle Episoden aus meiner Kindheit und Jugend, die sie aus
meinen
früheren Erzählungen kannte, in einem kleinen Büchlein zu versammeln.
    Wie oft ich darin geblättert hatte, wie oft ich dazu alteFotos von meinen Eltern und mir auf dem Tisch ausgebreitet hatte!
    Vater, Margarete.
    Vater sozusagen mit
meinem
Gesicht, aber gesetzter, behäbiger. Vater an seinem Schreibtisch in der Firma. Die Augen von eckigen Brillengläsern eingerahmt. Vater beim Händeschütteln mit irgendwelchen Geschäftsfreunden. Wie steif und offiziell er wirkte!
    Margarete mit auftoupierter Hannelore-Kohl-Frisur. Margarete in einem pastellgelben Kostüm. Auf diesem Foto führt sie lächelnd einen Jungen an der Hand. Das war ich.
    Im Laufe der Jahre waren die Hosenschläge der anderen Leute auf den Fotos weiter geworden, die Koteletten der Männer immer üppiger. Nur meine Stiefmutter und mein Vater blieben unverändert: sie in Kostümen mit geradem Rock, er mit schwarzem Brillengestell und nach hinten gekämmtem Haar. Ein Stich fuhr mir quer durch den Körper. Es schmerzte so sehr, dass ich mich überhaupt nicht an meine Eltern erinnern konnte.
    Mittlerweile war ich vor einem Hochhaus angekommen und hatte den Motor abgestellt. Man hatte diesen Typ von Plattenbau nicht nur einmal, sondern gleich sechs-, sieben-, achtmal hier hochgezogen. Mit Tonnen von Farbe hatte man offenbar irgendwann nach der Wende versucht, den Bausünden der DDR ein freundlicheres Gesicht zu verleihen. Es war bei einem kläglichen Versuch geblieben. Man hatte Bäume gepflanzt. Aber ihr Grün verlor sich matt vor der Übermacht aus Beton.
    Mein Blick glitt über die Fassaden. In einer dieser Wohnungen … Ja, was war dort? Ich schwitzte, obwohl keine Sonne mehr zu sehen war. Das schwefelige Licht und die Schwüle, die über allem lag, waren weitaus schlimmer.Hürlis alter Volvo ließ einiges an elektronischem Schnickschnack vermissen. Die Fenster musste man natürlich von Hand herunterkurbeln. Das brachte aber auch keine Erfrischung und so stieg ich aus.
    Wieder sah ich empor.
    Mit einem Mal begann ich zu zählen.
    Jetzt wusste ich, dass ich auf der Suche nach einem bestimmten Balkon war: der vierte von links im fünften Stock.
    Ich heftete meinen Blick darauf, als könnte ich mit Röntgenaugen in die dahinterliegende Wohnung sehen. Was war in dieser Wohnung geschehen, welche Bedeutung hatte sie für mein Leben?
    Mir wurde immer heißer. So spürte ich kaum die Tropfen, die vereinzelt auf mein Gesicht fielen. Ein Mann ging an mir vorüber. Musterte er mich? Ob er den Fahndungsaufruf im Radio gehört hatte? Oder litt ich neuerdings unter Paranoia-Anfällen? Bestimmt hatte man mein Bild inzwischen auch im Fernsehen gezeigt.
    Mit gesenktem Kopf hielt ich auf den Eingang zu. Ich bewegte mich, als wäre ich ferngesteuert. Das Haus zog mich magnetisch an. Der Fußboden war mit Waschbetonfliesen ausgelegt. Die Glastür stand offen und so konnte ich schnurstracks hineinmarschieren und in den Fahrstuhl steigen. Ich fuhr in den fünften Stock hinauf.
    Mit einem Mal stand ich vor der Tür, von der ich – woher auch immer – mit tödlicher Sicherheit wusste, dass dahinter
die
Wohnung lag. Eine Wohnung jedenfalls, die ich schon oft betreten

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