Der andere Tod
hatte.
Ich drückte den Klingelknopf über dem Plastikschild mit dem Namen »Schlefski«. Der Ton war laut und schrill. Mein Herz schlug wie verrückt, meine Handflächen waren feucht und für den Bruchteil einer Sekunde war die Angst stärker als alles andere. Inständig hoffte ich, dass sich
keine
Schritte nähern würden, dass
niemand
diese Tür öffnen würde. Dass ich einfach wieder gehen könnte. Ich wollte nur noch weg von hier. Nur noch zurückfahren in mein altes, unvollständiges Leben mit den vielen Fragezeichen. Aber da
waren
Schritte.
Die Tür ging auf. Dahinter stand ein dicker Mann in weißem Unterhemd und blauen Boxershorts. Seine behaarten Füße steckten in Plastiklatschen. Er sah mich misstrauisch an. Offenbar war ich ihm unbekannt.
»Ja.« Seine Stimme klang unwirsch.
»Herr Schlefski?«
»Iss ja nich so schwer zu erraten, wenn’s so anner Klingel steht, nich’! Und wenn Se wat verkoofen woll’n, bei mir is’ nüscht zu holen.«
»Ich will nichts verkaufen. Ich … war nur zufällig in der Gegend und dachte … Die Leute, die früher hier gewohnt haben, kennen Sie die?«
»Se meenen de gute alte Frau Lewinsky? Na, von der hab’ ick die Wohnung ja übernommen. Klar kenn’ ick die.«
Schnell musste ich mir eine überzeugende Story ausdenken. »Ja, genau, die Frau Lewinsky. Sie müssen wissen, ich bin ein alter Schulfreund von ihrem Sohn, von Tom Lewinsky. Tja, und jetzt habe ich mich auf die Suche nach ihm gemacht. Wir haben uns aus den Augen verloren.«
Während ich mit dem Mann sprach, versuchte ich, hinter ihn in die Wohnung zu linsen. Doch so groß und breit, wie er in der Tür stand, versperrte er mir jegliche Sicht.
»Ja, also, die Mudder von Ihr’m Schulfreund is’ nach’m Tod von ihr’m Gatten nach Leipzsch gezogen.«
»Ist Tom Lewinskys Vater erst kürzlich verstorben?«
»Ne, ne, det is schon fünf Jahre her.«
Ich überlegte fieberhaft, wie es mir gelingen könnte, einen Blick in die Wohnung zu werfen. Sollte ich fragen,ob ich seine Toilette benutzen durfte? Nein, das wäre doch allzu peinlich.
Da kam mir der rettende Gedanke. Nun konnte ich sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: »Wären Sie wohl so freundlich, mir die Adresse und die Telefonnummer von Frau Lewinsky aufzuschreiben? Dann würde ich sie mal besuchen. Sie kennt mich ja noch von früher. Und bestimmt könnte sie mir sagen, wo ich Tom finde.«
Einen Augenblick lang kehrte das Misstrauen in seinen Blick zurück. Ich setzte meinen harmlosesten Gesichtsausdruck auf und lächelte wie ein Schaf. Offenbar befand der Mann meine Ausstrahlung für vertrauenswürdig – oder vielleicht auch nur für dümmlich genug. Jedenfalls verschwand er im hinteren Teil der Wohnung.
Ich beschloss, aufs Ganze zu gehen, und tappte einfach hinter ihm her, als habe er mich darum gebeten.
Und nun brachen in meinem Inneren die Deiche. Es gab kein Halten mehr. Ich wandelte durch meinen eigenen Traum. Die Konturen der Wohnung verschwammen, die Türrahmen dehnten sich wie in einem Zerrspiegel, und als ich schließlich das Wohnzimmer betrat, war es mir, als wäre ich einer Flutwelle von Bildern ausgeliefert. Sie schossen an meinem inneren Auge vorüber, in immer schnellerer Abfolge. Es waren Bilder von haargenau diesen Räumen, aber hier standen andere Möbel und vor den Scheiben hingen andere Gardinen. Ich musste mich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.
Langsam ließ das Rauschen in meinem Kopf nach. Ich war wieder hier angekommen.
Vor mir stand Schlefski, der mich die ganze Zeit über mit durchdringendem Blick beobachtet haben musste. Dann drückte er mir wortlos einen Zettel in die Hand. Ich taumelte benommen davon.
Auf dem Weg nach Leipzig grübelte ich unablässig. Ich wusste nun, dass es da eine Wahrheit gab, die mich mit Lewinsky verband, etwas, das über Anouks Verhältnis zu ihm hinausging.
Was hatten wir früher bloß miteinander zu tun gehabt, Lewinsky und ich? Arbeitete Lewinsky auch für von Maydell und dessen Syndikat?
Ich biss die Zähne aufeinander und umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. In Kürze würde ich Lewinskys Mutter aufsuchen. Würde sie mir eine zufriedenstellende Antwort geben können – oder wollen?
In Leipzig begrüßten mich die Rohrleitungen wie alte Freunde. Sie waren mir vertraut, rosa und blau durchzogen sie die ganze Stadt, überquerten die Straßen wie Brücken, liefen an Gebäuden entlang über Bürgersteige.
Mit etwas Mühe hatte ich die Adresse auf
Weitere Kostenlose Bücher