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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
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individuelle Wache vor dem Haus, in dem angeblich »die Schwiegertochter« der seligen Frau Lewinsky wohnte.
    Plötzlich hielt ein Wagen am Straßenrand. Ich sah wegen der Tropfen auf der Windschutzscheibe nur undeutlich, dass jemand ausstieg – eine attraktive Frau, sie war blond. Ich drehte den Zündschlüssel ein wenig und verschaffte mir durch den Scheibenwischer bessere Sicht.
    Die Frau ging um ihren Wagen herum, öffnete die hintere Tür an der Beifahrerseite, beugte sich hinein und war für ein paar Augenblicke verschwunden. Dann wand sie sich wieder heraus. Sie hatte ein Kind losgeschnallt, einen Jungen von vielleicht vier oder fünf Jahren.
    Diese im Grunde ganz und gar alltägliche Szene fesselte mich. Ich beugte mich vor, um die beiden genauer betrachten zu können.
    Und plötzlich waren sie da, längst verloren geglaubte Erinnerungsbilder, in einer Deutlichkeit und Schärfe, die mich schwindeln machte. Immer neue, andere, kamen hinzu. Der Strom wollte und wollte einfach nicht mehr abbrechen. Sie ergossen sich über mich. Erbarmungslos.
    Dann wurde alles um mich herum schwarz.

Alptraumgarten
    Ich wachte auf. Um mich herum war Dunkelheit, immer noch, doch diese Schwärze kam von der Nacht, die inzwischen hereingebrochen war. Der Scheibenwischer lief ununterbrochen, es regnete mit der gleichen ruhigen Beständigkeit wie zuvor.
    Ich drehte den Zündschlüssel ein Stück weiter und fürchtete, die Batterie würde jeden Moment leer sein. Doch der Motor, Hürlis zuverlässiger Freund, sprang ohne zu murren an. Wie in Trance lenkte ich den Wagen über die Ausfallstraße, heraus aus Leipzig in Richtung Autobahn. Wie in Trance schaltete ich, überholte, scherte ein, überholte wieder. Ich hatte nun keine Eile mehr.
    Die Flut, die über mich hinweggedonnert war, hatte ihre Bilder dagelassen.
    Jetzt hatte ich, was ich wollte. Jetzt hatte ich meine Erinnerung zurück. Jetzt hatte die liebe Seele ihre Ruh endgültig verloren. Mir war klar geworden, dass es Dinge gab, die nie wieder rückgängig gemacht werden konnten.
    Ich wusste alles. Beinahe alles. Einen letzten, einen allerletzten Zweifel hegte ich noch. Ich
musste
ihm nachgehen.
     
    Es war etwa vier Uhr morgens, als ich den Volvo drei Kehren unter unserem Haus am Rande eines Feldwegs abstellte.Ich griff nach der Taschenlampe, die ich in Hürlis Handschuhfach gefunden hatte, schaltete sie aber nicht ein.
    Lautlos stieg ich aus und lauschte. Lauschte in die Dunkelheit und in den Regen, der das einzige Geräusch blieb, das an meine Ohren drang. Eine frühsommerliche Kühle lag über dem Land, so, wie ich sie von den unendlichen Sommern meiner Kindheit kannte.
    Meine Kindheit. Alle Erinnerungen waren wieder da.
    Nicht denken, sagte ich mir, nicht denken, gehen.
    Ich schlug den Fußpfad ein, der an unserem Haus vorbei auf den Pfänder führte. Es dauerte nicht lange, da hatte der Regen die ohnehin dünne Jacke, die ich im Fond von Hürlis Volvo gefunden hatte, durchnässt. Auf solch einen Wetterumschwung war ich nicht eingerichtet gewesen, als ich am Tag zuvor – War es wirklich erst einen Tag her? – meine Fahrt in den Osten angetreten hatte.
    Ich passierte das Hinteregger’sche Anwesen, ebenso das Haus der Thorwaldssons. Dort schlug der Dobermann an. Der hatte mir gerade noch gefehlt. Mit stechendem Atem eilte ich weiter. Ab und zu knirschten ein paar Steine unter meinen Tritten. Ich bemühte mich, nicht mitten hinein in all die Rinnsale zu treten, die den Weg schon beinahe zu einem Bachbett gemacht hatten.
    Jetzt hatte ich unseren Zaun erreicht. Er markierte die untere Grundstücksgrenze. Erneut hielt ich inne und lauschte. Was, wenn sie das Grundstück bewachten? Wenn sie Posten aufgestellt hatten? Wütend wischte ich meine Ängste beiseite, atmete zweimal tief durch, straffte die Schultern und machte mich daran, den Zaun zu überklettern. Ich musste zumindest versuchen, meinen letzten Plan noch auszuführen. Danach mochten sie mich meinetwegen fassen.
    Das gesamte Grundstück war ringsum von einem breiten und dichten Gürtel aus Bäumen und Büschen umgeben. Ich kämpfte mich durchs Unterholz und erinnerte mich lebhaft daran, dass Anouk häufig voller Stolz von ihrem »immer grünen Wall« aus Eiben und Buchsbaum, Kirschlorbeer und Efeu gesprochen hatte. Nasse Zweige schlugen mir ins Gesicht. Ich unterdrückte Flüche. Ein Regenschwall ergoss sich in meinen Kragen.
    Endlich hatte ich die Grenze zu Anouks Ziergarten erreicht – sie hatte diesen Bereich des

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