Der andere Tod
jedem anders verarbeitet. Da gab es Menschen, die keinerlei äußerlich erkennbare Reaktion zeigten, andere, die davonliefen. Wieder andere, die sich erst gar nicht richtig hineintrauten.
Julie beschrieb den Vorgang als einen Fallschirmsprung mit verbundenen Augen. Niemand konnte vorhersagen, wie die Landung sein würde. Ob man sanft und weich aufkäme, wie in Watte. Ob man urplötzlich in kaltes Wasser stürzte. Oder auf einem Geröllfeld aufschlüge.
Im Arbeitszimmer ließ ich den Blick spiralförmig durch den Raum schweifen. Ich saß an meinem Schreibtisch, in der Mitte des Raumes, und dachte darüber nach, was ich von all dem halten sollte, diesem auf Hochglanz polierten Ambiente. »Gediegener Luxus« – diese Bildunterschrift würden Journalisten von ›Homes and Gardens‹ oder einer anderen Einrichtungszeitschrift der gehobenen Klasse wählen. Ich musterte die marmornen Buchstützen, auf denen Windhunde zum Sprung ansetzten, und die Mahagonitäfelung, die von Erfolg und Sattsein sprach. Eingebaute Bücherregale mit farblich aufeinander abgestimmten Gesamtausgaben, deren Lederrücken nie ein Mensch berührt zu haben schien. Ich trat näher und las die goldenen Lettern einer altehrwürdigen Ausgabe der ›Encyclopædia Britannica‹und des ›Brockhaus‹. (Wie um alles in der Welt hatte ich den hierher bekommen – in einem Schrankkoffer?)
Alles war offensichtlich zum Ansehen,
nicht
zum Lesen gedacht.
Daneben fanden sich versprengt ein paar Bücher, die benutzt aussahen: ein Dubbel – das klassische Nachschlagewerk für Maschinenbauer –, außerdem Formelsammlungen und verschiedene Fachbücher über Luft- und Raumfahrttechnik.
Hatte
ich
all das hier eingerichtet?
Gegenüber der Bücherwand prangten übergroße Fotografien, auf denen ich wie ein einsamer Held, ein gischtumsprühter Thor Heyerdahl, gegen die Fluten irgendeines Ozeans ankämpfte. Ich betrachtete die Bilder genau und fühlte – nichts. Keine aus den Tiefen emporsteigende Unruhe, keinen Drang, mir raue Winde um die Nase wehen zu lassen, kein Meer, das ich rufen hörte.
Noch einmal tastete mein Blick durch den Raum. Hätte ich nicht irgendetwas wiedererkennen müssen? Hätte nicht eine verblasste Liebe zu einzelnen Gegenständen Farbe annehmen müssen?
Das Einzige, was ich deutlich empfand, war Befremden. Befremden über die Möbel und die angeberisch aufgestellten Bücher. Wie hatte ich mich zustellen können mit nutzlosen Gegenständen, die noch nicht einmal ein leises Wohlgefühl in mir erzeugten?
Oder war es vielleicht Anouk gewesen, die dieses Zimmer eingerichtet hatte? Hatte sie sich womöglich auf den routinierten, aber unpersönlichen Blick eines Raumausstatters verlassen? Und hatte ich – aus Liebe zu ihr – geschwiegen?
Der Schreibtisch war ein Ungetüm aus poliertem Tropenholz. Ein antikes Stück, das sicher ein kleines Vermögengekostet hatte. Die Knäufe waren in die Schublade geschnitzte Löwenköpfe, die Front wölbte sich in einem kühnen Schwung nach vorne. Ich fasste in das Löwenmaul und zog die Lade auf: grün ausgeschlagene Fächer, Stifte, Locher, Hefter, ein Speicherstick, Zettel, alles in soldatischer Ordnung. Dann öffnete ich die zweite Schublade: Mappen und ein Reisepass, von dem die obere rechte Ecke abgeschnitten war. »Bundesrepublik Deutschland« stand in goldenen Lettern auf weinrotem Grund. Ich schlug eine der ersten Seiten auf und blickte mir selbst, ein wenig jünger und unversehrter, entgegen. Vorsichtig blätterte ich weiter nach hinten, zu den Visaeinträgen. Offensichtlich hatte ich ein buntes Leben geführt. Hier stand es, die Stempel bewiesen es. Koreanische Schriftzeichen, arabische Schnörkel aus Syrien und Dubai.
Ich legte den Pass zurück und wollte die Schublade wieder zuschieben, doch etwas hatte sich verkantet. Deshalb zog ich die Schublade darunter heraus, griff hinein und spürte ganz hinten ein weiches Stück Stoff. Ich zerrte daran, bis ein kleiner Beutel zum Vorschein kam.
Neugierig löste ich das Band, das ihn zusammenhielt. Als ich den Gegenstand sah, den ich aus dem Beutel gezogen hatte, war ich verwirrt. Es war ein zweiter Pass, ebenfalls auf meinen Namen ausgestellt, und auch von ihm war die obere rechte Ecke abgeschnitten. Doch im Unterschied zum ersten Dokument enthielt dieses ausschließlich Sichtvermerke für die Einreise nach Russland. Die Seiten des Passes hatten nicht ausgereicht, um alle Reisen aufzunehmen.
Eine Weile lang grübelte ich darüber nach, warum ich
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