Der andere Tod
ich, dass mein Vater mit mir damals aus der Ostzone geflüchtet war, nur er und ich. Was mit meiner Mutter geschehen war, wusste sie nicht. Mein Vater hatte wohl bald wieder geheiratet, eine wohlhabende Frau, Margarete – eine Fabrikantentochter, wie Anouk es ausdrückte –, doch er sei 1970 bei einem Unfall ums Leben gekommen. Und ich sei bei meiner Stiefmutter aufgewachsen.
Weiter las ich: »1980 Abitur in Lindau am Bodensee, dann Studium der Luft- und Raumfahrttechnik in Stuttgart, zwei Auslandssemester in England. Nach dem Studium ein paar Jahre bei eine Firma in München, die Simulatoren baut. 1985 Gründung eines eigenen Unternehmens: Winther Simulatorenbau.«
Ich war ein Selfmademan, was auch immer das bedeuten sollte.
Noch einmal überflog ich die Vita und mein Blick streifte erneut den Ort, an dem ich geboren war. Leipzig. Der Sandkastentraum fiel mir ein. Vielleicht lag der Ursprung dieses Traums ja dort? Andererseits war ich zum Zeitpunkt der Flucht ein Jahr alt gewesen. Eigentlich noch etwas zu jung, um im Sandkasten zu spielen. Zu jung, um auf die Frau im grauen Rock zuzulaufen.
Am Abend rannte ich. Über die Karlsbrücke, durch einen Park, dessen Name mir nicht einfiel, ich umrundete das Strahovsky Stadion in großem Bogen und lief zurück durch die Straßen der Malá Strana.
Im Laufe des Tages waren die Temperaturen gesunken, weiß dampfte mein Atem in der Dunkelheit. Die kalte Luft tat mir gut, machte meine Lungen weit und den Kopf klar.
Ich lief schnell, durch Seitenstraßen, den Blick mal nach innen, mal nach außen gerichtet. Ich hatte ein Gefühl von Klarheit und Stärke. Und von Dankbarkeit. Wer hätte das gedacht, dass ich je wieder so würde laufen können?
Ich überholte Passanten, die letzte Weihnachtseinkäufe erledigten, Hundebesitzer, die einen Abendspaziergang machten, joggte vorbei an Antiquitätenhändlern und gemütlich aussehenden Restaurants mit dunkler Holztäfelung; an Schaufenstern, in denen bestickte Tischdecken mit russischen Maruschkas wetteiferten, an Antiquariaten, in denen sich Bücher bis unter die Decke stapelten.
Ich ließ mich voll und ganz vom Charme der Goldenen Stadt betören. Und spürte die Tradition, den alten Zauber Prags, der immer noch oder wieder da war, zwischen Sozialismus und Aufbruch in eine neue, westlichere Zeit.
Die meisten Geschäfte hatten inzwischen geschlossen. Nur in ein paar Souvenirläden brannte noch Licht. Ich sah eine Traube junger Leute, vielleicht italienische Touristen, die eine Auswahl Holzmarionetten begutachteten. Eine Schiefertafel vor einem »Restaurace« pries Speckknödel und andere deftige Gerichte an. Mein Magen knurrte unüberhörbar. Ich wäre gerne eingekehrt, aber musste nun meinen Schritt eher noch beschleunigen. So verschwitzt, wie ich war, konnte ich jetzt nicht anhalten. Ich würde mich sofort erkälten.
Wie ich dorthin gekommen war, weiß ich nicht. Aber plötzlich entdeckte ich auf der anderen Straßenseite die Tierhandlung Pink Rabbit, die ich gestern vom Taxi aus gesehen und wiedererkannt hatte.
Abrupt blieb ich stehen. Eine dicke Frau lief in mich hinein und fluchte. Ich stammelte eine Entschuldigung, noch immer zu den überdimensionalen Leuchttieren hinüberstarrend, die sich über der Eingangstür wie die Prager Variante der Bremer Stadtmusikanten türmten.
Zögernd sah ich mich um. Vielleicht suchte ich in einem fremden Gesicht einen Hinweis darauf, was zu tun wäre. Doch keiner der ernsten Prager beachtete mich. Sie umrundeten mich wie Wasser, das um einen Stein fließt.
Beim Betreten der Fahrbahn wäre ich um ein Haar von einem Wagen erfasst worden. Eine Hupe ertönte, ein Mann brüllte ein tschechisches Schimpfwort, vielleicht einen Fluch, den ich nicht verstand.
Ich taumelte und blieb mit bebenden Knien zwischen zwei geparkten Autos stehen. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ein paarmal atmete ich tief ein und aus. Als ich mich so weit im Griff hatte, dass das Zittern in meinen Beinen abgeebbt war, betrat ich den Laden.
Beim Öffnen der Tür ertönte statt der Türglocke ein Konzert aus Bellen und Miauen.
Ein hagerer Mann mit spärlichem Haarwuchs und einem schiefen Lächeln kam auf mich zu und sagte: »Dobrý večer!« Als er meinen unsicheren Gesichtsausdruck sah, schwenkte er sofort auf Englisch um und fragte: »CanI help you?«
»No, no …« Ich winkte ab und fügte an, dass ich mich nur kurz umsehen wollte.
Er machte eine einladende Geste mit beiden
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