Der andere Tod
ich konnte auf. Dann lief ich in die Besenkammer, um zwei Eimer, Putzmittel und eine Küchenrolle zu holen. Sorgfältig säuberte ich Anouk, zog ihr das verschmutzte Hemd über den Kopf, wickelte sie in die Decke und legte sie aufs Sofa.
Anouk wimmerte jetzt leise und verhalten. Während ich schrubbte, murmelte ich begütigende Worte. Nach einer Weile hatte sie sich beruhigt und sank matt in den Schlaf.
Ich räumte das Putzzeug auf, brachte die leere Weinflasche in die Küche und fand noch eine geöffnete Flasche Baily’s auf der Ablage. Dann hob ich Anouk mitsamt der Decke hoch, trug sie ins Schlafzimmer, legte sie ins Bett und lauschte bis zum Morgengrauen ihrem unruhigen Atem.
Der Fremde
Wilde Träume trugen mich in den Tag. Als ich hochschreckte und auf die Uhr sah, war es bereits Viertel vor neun. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und schlüpfte hastig, ohne zu duschen oder mich zu rasieren, in die Kleider. Um neun hatte ich einen Termin mit Wenzlow und einem potentiellen Unterlieferanten, der uns erklären wollte, warum wir unser Sichtsystem in Zukunft outsourcen sollten. Außerdem musste wegen des indischen Angebots endlich eine Entscheidung fallen.
An der Tür sah ich mich noch einmal um, die Hand auf der Klinke. Anouk lag still da, den Kopf zur Seite gedreht, das Haar fiel ihr übers Gesicht. Was für ein friedliches Bild, dachte ich. Schlafende Menschen haben so etwas Rührendes.
Lange konnte das nicht mehr gut gehen. Wir mussten endlich den Mut finden und die Wahrheit – vorbehaltlos – auf den Tisch legen. Doch wer würde den Anfang machen?
Ich trat ans Bett, küsste Anouk aufs Haar, ging dann zu ihrem Sekretär und schrieb auf einen Block: »Wir müssen reden. Heute Abend.«
Den Zettel legte ich auf ihren Nachttisch.
Die österreichische Variante von Ampeln, die vor dem Umschalten blinken, kam mir gelegen: Ich nutzte dieses Signal, das ja eigentlich der Sicherheit dienen sollte, schamlos aus und gab Gas. Dafür öffnete ich Punkt neun die Tür zum Besprechungszimmer.
Der Unterauftragnehmer saß bereits da. Er hatte einen Kaffee vor sich, in den er gerade Milch goss. Wenzlow kam auch gleich dazu. Unser Besucher erläuterte uns beredt die Vorteile seines Vorschlags. Der Geschäftsführer von VisuTec, ein gewiefter Software-Ingenieur mit französischem Namen und bayerischem Akzent, der sechs Festangestellte beschäftigte und den restlichen Bedarf durch Freelance-Kräfte aus dem studentischen Milieu deckte, hatte uns tatsächlich ein interessantes Angebot für eine Zusammenarbeit zu machen. Das Angebot war nicht nur aus Kostengründen erwägenswert, sondern würde für unsere Simulatoren einen Technologiesprung bedeuten, den wir selbst nur unter erheblichen Investitionen in Sachen Entwicklung würden machen können.
Als alles gesagt war, ging ich hinüber in mein Büro und war dankbar für das Croissant und die Tasse Kaffee, die Frau Meyer mir reichte. Anscheinend hatte ich schon früher die Angewohnheit gehabt, ohne Frühstück aus dem Haus zu gehen. Als Sekretärin vom alten Schlag fühlte sie sich verpflichtet, für das leibliche Wohl ihres Chefs zu sorgen.
Ich aß und krümelte. Während ich kaute, hörte ich, wie die Meyerin einen Anrufer auf später vertröstete.
Jetzt, da etwas Ruhe eingekehrt war, schoss mir wieder die Idee, einen Detektiv zu engagieren, durch den Kopf. Ich musste dringend mehr über Lewinsky erfahren. Gerade war ich dabei, Detekteien in Bregenz zu googlen, als mein Handy zu dudeln begann. Ich fluchte innerlich und dachte an die auf ein Uhr vertröstete Barbara. Auf dem Display erschienjedoch: »Unbekannter Teilnehmer«. Beinahe hätte ich es einfach läuten lassen. Dann aber entschied ich mich, das Gespräch doch anzunehmen. Notdürftig wischte ich die fettigen Finger an einer Serviette ab und drückte die Taste. Ein wenig unwirsch antwortete ich: »Ja!«
Pause. Und dann die Stimme des Unbekannten, schneidend scharf und doch ruhig und gelassen wie die beiden Male zuvor: »Winther?«
Jetzt war es an mir zu schweigen, aber der Fremde ließ sich nicht beirren. »Sie haben auf unsere Bitte nicht reagiert. Das war nicht sehr höflich.«
Der Mann schien davon auszugehen, dass ich irgendetwas zu tun versäumt hatte und dass ich
ihnen
– wer auch immer das sein mochte – irgendetwas schuldig war.
Unvermittelt schoss mir die Frage durch den Kopf, ob die Gestalt, die ich bei uns im Garten zu sehen geglaubt hatte, dieser Fremde gewesen war. Aber jetzt konnte
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