Der andere Tod
Es passte nicht schlecht, wenngleich es vielleicht eine Idee zu weit war – ausgerechnet an den Schultern, was mich ärgerte. Und nun gab es kein Halten mehr. Ich zog meine Hose aus und Lewinskys Jeans an. Sie hatte wohl die richtige Länge – größer als ich war er folglich nicht. Aber die Jeans war mir zu weit.
Ein lächerliches Gefühl der Überlegenheit erfüllte mich. Ich erinnere mich noch heute genau daran. Welch armseliger Triumph: Lewinksy war fetter als ich!
Das zweifelhafte Hochgefühl hielt so lange an, bis ich die Kleider zurückgelegt und den nächsten Raum betreten hatte. Er war eine Kombination aus Arbeitszimmer und Fitnessstudio. Nach dem Equipment zu urteilen, das hierherumstand, war nicht darauf zu schließen, dass Lewinsky sich selbst beim Fettwerden zugesehen hatte. Die Differenz zwischen Leibesumfang und Schultermaß war also nicht durch zusätzliches Fettgewebe ausgefüllt worden, sondern durch Muskulatur.
Ich wischte den Gedanken beiseite und machte mich über Lewinskys Arbeitsplatz her. Vielleicht konnte ich hier endlich etwas über diesen Menschen in Erfahrung bringen. Ich sehnte mich nach soliden Informationen.
Als Erstes durchsuchte ich seinen Schreibtisch. Ich fand gelbe Notizzettel, Büro- und Heftklammern, eine Sammlung Glasmurmeln, die mir außerordentlich gut gefiel, ein paar Magnete für die Wand, Hefter und Locher, Heftschienen, Umschläge, alte Software-Handbücher, ein in Plexiglas gegossenes vierblättriges Kleeblatt und jede Menge Computerzubehörteile.
Aber es gab keinen einzigen Brief von Anouk.
Hastig machte ich mich über die Ablageboxen her. Hier fand ich alte Strom- und Abwasserrechnungen und eine Kfz-Vollkaskoversicherung für einen BMW Z3 Roadster mit dem Kennzeichen FN-TL 5762.
»Aha«, dachte ich gehässig, »noch so ein Seppel mit seinen Initialen im Kennzeichen. Wie hat er denn seinen fleischigen Bodybuilder-Leib in dieses schnittige Autochen gebracht, vielleicht mit einem Büchsenöffner?«
Zu diesem Zeitpunkt war mir die Lächerlichkeit meiner Gedanken in keinster Weise bewusst. Im Gegenteil. Während ich weitersuchte, steigerte ich mich in eine dermaßen giftige Animosität gegen Lewinsky hinein, dass ich an mich halten musste, keine Verwüstung anzurichten.
Langsam wurde ich müde. Aber ich hatte mir noch dringend die Ordner vorzunehmen, die auf einem Regalbrett über dem Schreibtisch standen. Es musste irgendwo einDokument geben, das schwarz auf weiß belegte, wann und wie oft er meine Frau angerufen hatte.
Doch so konzentriert ich auch suchte, in keinem der Ordner waren Telefonrechnungen abgeheftet. Irgendwo musste er sie doch aufbewahren!
Dann fiel mir ein, dass er sie möglicherweise als Anhang per Mail erhielt und sie im PC gespeichert haben könnte. Ich drückte die EIN-/AU S-Taste , aber nichts geschah. Vergeblich wartete ich auf den vertrauten Piepton und das leise Summen, das gewöhnlich darauf folgt.
Nichts.
Ich drückte noch einmal fest und energisch. Als auch dieses Mal keine Reaktion kam, kroch ich unter den Tisch, um die Kabelverbindung zu überprüfen. Was ich hier entdeckte, überraschte mich: Jemand hatte die Festplatte ausgebaut.
Mit welcher Absicht war das geschehen?
Ich durfte keine Zeit verlieren, denn bald würde es hell werden, und dann musste ich wieder zu Hause im Bett neben Anouk liegen. Aber die fehlende Festplatte beschäftigte mich. Beim Weitersuchen kreisten meine Gedanken ständig darum.
Während meine Finger Belege über Lewinskys Mitgliedschaft im Tierschutzverein und über eine Patenschaft bei Plan International durchblätterten, kam mein Verstand zu dem Schluss, dass Lewinsky wahrscheinlich einen Festplattencrash gehabt hatte. Vermutlich war er vor seiner Abreise nicht mehr dazu gekommen, das System komplett wiederherzustellen.
Leider suchte ich vergeblich nach irgendwelchem Backup-Material.
Immer tiefer war ich in Lewinskys Privatsphäre eingedrungen. Als ich mich schließlich durch alles hindurchgewühlthatte, traf mich die Erkenntnis mit einem Paukenschlag: Ich hatte nichts Brauchbares gefunden.
Immerhin hatte ich nun eine konkrete Vorstellung davon, was ich gerne gefunden
hätte
: Wie konnte es sein, dass Lewinsky in seiner Wohnung kein einziges Kinderfoto, kein einziges Bild seiner Eltern, seiner Familie, seiner Freunde hatte? Und – vor allen Dingen – es gab kein einziges Bild von Anouk!
Und wie stand es mit Erinnerungsfotos von ihm selbst? Auch wenn er vermutlich seit Jahren auf digitale
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