Der andere Tod
war leer.
Eisige Kälte stieg in mir auf. Ich drehte mich um, ließ meine Augen durch den ganzen Raum schweifen und tastete mit dem Blick mühsam die Zimmerecken ab. Meine Bewegungen fühlten sich seltsam steif an. Das Rascheln meines Schlafanzugs erschien mir überlaut in der merkwürdigen Stille.
Ich knipste das Licht an. Und da bestätigte sich, was ich im Dunkeln nicht hatte wahrhaben wollen. Anouk war tatsächlich nicht da.
Ich machte Licht im Gang, im Treppenhaus, ging in die Küche, von der Küche ins Wohnzimmer.
Und da saß sie. In einem dünnen weißen Nachthemd, die Beine angewinkelt, bleich und mit übergroßen Augen saß sie in einem Sessel und starrte in meine Richtung.
Im ersten Moment dachte ich, sie sei tot. Sie war eine Hülle. Sie saß dort, völlig reglos, wie eine wächserne Puppe.
»Anouk?« Ich war heiser.
Sie starrte weiterhin blicklos vor sich hin. Schnell lief ich zu ihr, beugte mich zu ihr hinunter und griff nach ihren Händen. Sie waren kalt wie Eis. Ich stand auf, um eine Decke zu holen, und legte sie ihr um die Schultern.
In diesem Moment fiel mir auf, wie dünn Anouk war. Ihre Schlüsselbeine traten deutlich hervor, zwei waagrechte Rinnen, die Schultern waren knochig. Ich erschrak. Wie hatte ich nicht bemerken können, dass sie so viel abgenommen hatte? War ich so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen?
Ich kniete mich vor ihr hin. Sie roch nach Alkohol. Behutsam drückte und knetete ich ihre Hände.
Da hörte ich Anouk leise murmeln und ihre Stimmeklang hohl und monoton: »Alles wiederholt sich. Es wiederholt sich alles.«
Ich gab vor, sie nicht verstanden zu haben, und fragte: »Was sagtest du, Liebes? Ich habe es nicht gehört.«
Mit einem Ruck wandte sie den Kopf und sah mich direkt an. In ihren Augen lag ein fiebriger Glanz und ihr Tonfall hatte etwas Lauerndes, als sie mich fragte: »Wo warst du?«
Vor dieser Frage hatte ich mich gefürchtet. Während ich nach einer halbwegs plausiblen Erklärung für mein nächtliches Verschwinden suchte, fixierte sie mich durchdringend. Es war, als würde sie mich mit ihrem Blick aufspießen.
Plötzlich zischte sie: »Du warst bei
ihr
, stimmt’s?«
Ich musste verdutzt ausgesehen haben, denn sie begann zu lachen. Aber es war kein fröhliches, belustigtes Lachen, sondern ein irres, hexenhaftes Gemecker, das aus ihrer Kehle drang. Mein Blick fiel auf die leere Weinflasche, die neben dem Sessel stand.
Anouks Lachen steigerte sich. Ihre Stimme kippte, überschlug sich, sie fing an zu japsen, Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Sie lachte und lachte und wiegte sich dabei vor und zurück, vor und zurück, in einem immer frenetischeren Rhythmus. Wahrscheinlich hätte ich zu ihr treten, meine Arme um sie schlingen und sie halten sollen, ganz väterlich. Doch etwas hielt mich zurück. Ich hatte Angst, durch meine Berührung etwas
noch
Schlimmeres als dieses hysterische Lachen zu provozieren.
Ihre Frage schien sie vergessen zu haben. Oder sie erwartete ohnehin keine Antwort von mir. Doch in
meinen
Ohren dröhnte die Frage in endlosem Echo.
Anouk würde bald – wenn auch nicht mehr heute Nacht – eine plausible Erklärung für mein nächtliches Fortgehen verlangen.
Plötzlich war ich wieder unsäglich müde. Schließlich hatte ich in dieser Nacht noch kaum ein Auge zugetan. Und die Aufregung und das Bewusstsein, mit all dem allein zu sein, hatten mich ausgelaugt.
Ich hätte jetzt ein paar neue Ratschläge von Julie bitter nötig gehabt. Ebenso ihre wunderbar pragmatische Art, komplizierte Sachverhalte eingängig zu vermitteln. Aber mächtiger als alles andere war im Moment die bleierne Schwere meines Körpers.
Anouk schien mich gar nicht mehr zu bemerken. Ich stand noch eine Weile benommen vor ihr. Ein dummer Schuljunge, völlig überfordert von der Situation.
Anouks Lachen ging in ein Würgen über. Sie erbrach sich, spuckte alles aus sich heraus. Bis auf die Galle. Die ganze Soße lief einfach herunter, über ihr Kinn, auf ihre Brust.
Ich rannte in die Küche und schnappte mir ein Küchenhandtuch und eine Schüssel. Doch als ich zurückkam, hatte der Schwall so abrupt aufgehört, wie er begonnen hatte.
Anouk stierte auf ihre Hände, die voll Erbrochenem waren, und sah dann zu mir auf, wie wenn sie endlich wieder im Hier und Jetzt angekommen wäre. Sie fing an zu weinen und wiederholte pausenlos: »Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht. Es tut mir so leid.«
Ich griff nach dem Küchenhandtuch und nahm damit so viel
Weitere Kostenlose Bücher