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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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regrediert, zu irgendetwas Namenlosem und mittlerweise Vergessenem. Ich ging voraus, Luke klammerte sich am Rockschoß meines Anzugs fest, und Richard folgte dicht dahinter. Weitere Gänge zweigten von unserem ab. In der unvollständigen Sicht, die uns die Taschenlampen lieferten, sahen alle gleich aus. Das war jedoch gleichgültig. Die Anordnung der Tunnel war fest in mein Gehirn eingebrannt. Der einzige Plan, den wir dabeihatten, war in meinem Kopf.
    »Warte mal.« Richard hockte da, sein Gesicht zwischen den Knien. Er blickte auf, und im Schein von Lukes Lampe sah ich sein rotes Gesicht, die glänzenden Augen. Es ging ihm nicht gut. »Was ist los?«, fragte Luke. Richard schüttelte den Kopf, rang nach Atem. In der plötzlichen Stille unseres Halts vernahm ich ein Rasseln, wie knisterndes Papier. Luke leuchtete in den Abschnitt des Tunnels zwischen Richard und uns. Ein dunkler Kranz bewegte sich über das Metall. Ich ging näher heran und erkannte einen Schwarm Kakerlaken, der an einer Seite des Tunnels hochkrabbelte, sich an die Ritzen über unseren Köpfen klammerte, um dann auf der anderen Seite hinab und vor unseren Füßen wieder hinüberzulaufen. Der Schein der Taschenlampe durchdrang ihre durchsichtigen Flügel und tauchte sie in einen seltsamen orangefarbenen Glanz, als würden kleine Lampen sie von innen beleuchten. Irgendwo in dem Kreis musste es in den Metallrohren einen Spalt geben, denn ihr Weg würde sonst keinen Sinn machen – er war einfach ein Kreis, der sich immer aufs Neue wiederholte.
    Richard folgte dem Schein von Lukes Taschenlampe und entließ ein gedehntes »Scheißviecher!«. Er machte sich bereit, hindurchzuspringen, aber in dem Augenblick, als er losspringen wollte, löste sich der Ring auf. Die Kakerlaken fielen von den Wänden, stürzten in einem Schauer raschelnder Flügel in sich zusammen. Sie regneten auf Richard herab, der brüllend nach ihnen schlug, mit den Armen wild herumfuchtelte und den Kopf panisch hin und her warf. Zweimal schlug er gegen die Rohrwandungen, einmal mit dem Kopf, als er sich zu schnell aufrichtete, dann noch einmal mit seiner Taschenlampe, die er versehentlich mit der Birne gegen das Wellblech schlug. Ein Knall, und das Licht war aus. Im schwachen Schein der verbliebenen anderen Lampe standen wir da. Richard stolperte auf uns zu, fiel gegen die Tunnelwände, fluchte und wedelte mit den Armen, während wir seine spastischen Bewegungen in spärlich beleuchteten Fragmenten wahrnahmen.
    »Richard«, rief Luke. »Alles in Ordnung?«
    »Scheiße, scheiße, scheiße!« Immer wieder entfuhr Richard dieses Wort. Er schüttelte sein Haar, trampelte mit den Füßen.
    Ich flüsterte Luke ins Ohr: »Nur noch ein kleines bisschen.«
    Richard schüttelte die nutzlose Taschenlampe, sah die zertrümmerte Birne im Licht unserer eigenen und schleuderte sie den Weg zurück, den wir gekommen waren. Mit einem hohlen Scheppern, das durch den Tunnel hallte, flog sie gegen das Metall. »Können wir jetzt bitte hier raus?«, bettelte er.
    »Aber wir haben doch gerade erst angefangen.«
    »Egal, mir reicht’s.«
    »Warum?«, frage Luke. »Wovor hast du Angst?«
    Mit gefalteten Armen und hochgezogenen Schultern hockte Richard vor uns. Das schräg einfallende Licht zeichnete dunkelrote Furchen unter Augen und Mund, so dass er aussah wie eine der trauernden Gestalten in einem Werk von El Greco. »Ich habe vor gar nichts Angst. Ich ärgere mich nur, und außerdem ist mir scheißheiß. Was gibt es hier denn noch zu sehen?«
    »Da vorne soll es noch etwas geben«, sagte Luke. »Einen Wartungsraum oder so was.«
    »Faszinierend.«
    Zügig setzten wir unseren Weg fort, und als wir das Ende des Tunnels erreicht hatten, legte ich meine Hand auf Lukes: »Jetzt.« Er knipste die Taschenlampe aus, und es war, als hätte ich die Augen geschlossen. Nichts, nicht der kleinste Lichtstrahl. Ich hörte Richard, der nachkam: »Was? Verdammt!«
    »Uhh, warte«, sagte Luke, der seine Rolle perfekt improvisierte. »Hier stimmt was nicht.«
    »Luke, verarsch mich nicht«, sagte Richard. Angst lag in seiner Stimme.
    Luke schüttelte die Taschenlampe, so dass Richard die Batterien in ihrem billigen Plastikgehäuse klappern hören konnte. »Ich glaub, die Batterien sind alle.«
    Ich hörte, wie Richard heranschlurfte: »Wie bitte? Was erzählst du da? Hast du sie nicht geprüft?«
    »Hab ich vergessen, glaub ich.«
    »Sag ihm das jetzt mit dem anderen Ausgang«, flüsterte ich Luke ins Ohr.
    »Vergessen?«

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