Der Andere
dreinblickende, unscharfe Gesicht heranzoomte. Sein missgelaunter Gesichtsausdruck prägte sich mir ein, worauf sich aus meiner Mitte heraus ein ungutes Gefühl in alle Richtungen auszubreiten begann, wie Öl, das man in eine heiße Pfanne gegossen hat. Luke starrte auf das Foto und scrollte hinunter zu einer größeren Aufnahme, die Polizisten und gutgekleidete Bürger zeigte, die nach unten und über den Bildrand hinausblickten. Ich fühlte mich elend und angegriffen. Es war, als hätte das Betrachten der Bilder erneut ein Gift freigesetzt, das sich nun durch jedes erdenkliche Selbstbild fraß, das ich von mir haben mochte. Als würde sich mein Selbstverständnis aufweichen und auflösen wie in Wasser getauchtes Papier.
Über den beiden Abbildungen stand die Überschrift: »Sturz aus dem Fenster in der Fifth Avenue erweist sich als Suizid«.
Ein heimliches Lächeln legte sich auf Lukes Gesicht, bevor er an jenem Abend schlafen ging, und es wich die ganze darauf folgende Woche nicht von ihm. Hatte er sich zuvor in einer Art dumpfem Nebel durch die Zeit im College bewegt, schwebte er nun auf seltsame Weise gelassen und unbeschwert durch den Tag. Mir hingegen ging es ganz anders. Dinge, die ich nicht verstand, nahm ich lieber nicht zur Kenntnis. Doch das erwies sich als unmöglich, wenn mir derartige Dinge mit solcher Wucht ins Gesicht geschleudert wurden, dass ich nur noch diese wahrnehmen konnte.
Die Angst, die der Zeitungsartikel in mir auslöste, konnte ich mir nicht erklären. Dieser schwermütige junge Mann war nicht mehr als einer von Dutzenden, vielleicht Hunderten von Menschen, die in New York City täglich starben. Der Artikel gab ein paar persönliche Einzelheiten preis, die, zusammengenommen, eigentlich nichts erklärten. Die einzige Verbindung ergab sich durch unsere zufällige Nähe zu seinem Tod. Dennoch konnte ich mich des Gefühls des Erkennens nicht erwehren, das in dem Maße stärker wurde, in dem ich es als grundlos abzutun versuchte. Mehr noch beunruhigte mich jedoch Lukes Reaktion auf die Lektüre des Artikels. Eine schwere Last schien von ihm abgefallen zu sein. Das allein war vielleicht noch nicht besorgniserregend, aber bis jetzt musste ich in unserer gemeinsamen Zeit davon ausgehen, dass jede nicht nachvollziehbare Veränderung seines Verhaltens Anlass zur Sorge bot. Als ich ihn aber fragte, was ihm dieser Artikel bedeutete, schlug er die Augen nieder und sagte: »Was bedeutet er
dir?
«, worauf ich aber keine Antwort wusste. Ich musste verstehen, welche Bedeutung dies alles für das hatte, was wirklich wichtig war: die Aneignung von Lukes Körper als meines eigenen. Ich kam zu dem Schluss, dass ich die Angelegenheit vorantreiben musste, da ich sonst riskierte, dass mir die Dinge vollständig entglitten.
Einen Tag nachdem wir auf den Campus zurückgekehrt waren, begannen die Anrufe von Claire, unaufhörlich, das heißt, ich musste annehmen, dass sie von Claire waren. Luke hatte den Hörer nicht mehr abgenommen und Nate gesagt, dass er sich nicht die Mühe machen müsse, ihm Nachrichten weiterzugeben. Von wem auch immer sie waren, sie kamen ohne Unterlass, es läutete beharrlich und schonungslos, bis Luke das Telefonkabel schließlich aus der Steckdose zog. Aber selbst der Gedanke an eine aufgebrachte und möglicherweise labile Claire konnte Lukes Ruhe nicht erschüttern. Wie gewohnt ging er in die Kurse, und wie immer ließ er mich den größten Teil der Arbeit tun, auch wenn er mit den Gedanken völlig woanders war. Jeden Abend besuchte er Richard auf dessen Zimmer, holte sich dort ein wenig Kokain, führte eine einseitige Unterhaltung und ging der Erfüllung der Bitte um Cassies Telefonnummer mit immer verrückteren Entschuldigungen aus dem Weg. Die so unglaublich unbeschwerten Tage gingen dahin, bis ich es eine Woche nach unserem Abend in der Bibliothek schließlich nicht länger ertragen konnte.
»Luke«, begann ich. »Bitte. Du musst mir erklären, was los ist. Geht es um Cassie? Ist es das, was dich umtreibt?«
Bei Einbruch der Dämmerung gingen wir durch das Wäldchen hinter dem Graduiertenkolleg. In der Nacht davor war eine dünne Schneeschicht gefallen. Luke blieb stehen und malte mit der Spitze seiner Turnschuhe ein X in einen der kleinen Schneeflecken, der sich dem schwachen Sonnenlicht den Tag über hatte entziehen können. Er schmunzelte beim Anblick seines Kunstwerks. »Du denkst über Cassie mehr nach, als ich es je getan habe.«
»Ich meine, was ist passiert, als
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