Der Andere
schlief zusammengerollt zu seinen Füßen, umgeben von seinen Laken, während ich schlaflos auf dem zweiten Bett zubrachte. Mein Körper begann sich aufzulösen. Oft verlor ich jedes Gefühl in den Füßen und Beinen, und wenn ich an meinem Oberkörper hinuntersah, bemerkte ich Löcher, große Löcher, durch die ich deutlich den Boden oder den Sessel, in dem ich saß, sehen konnte. Manchmal war ich zu schwach, um mich überhaupt zu bewegen, so dass ich stundenlang einfach auf dem Sofa lag. Eines Nachts, während Luke und Claire schliefen, eine Woche, nachdem Midnight aufgetaucht war, ging ich ins Bad, um mein Gegenstück im Spiegel zu betrachten.
Ich war alt. Groß und gebeugt stand ich da mit hängenden Schultern und fleischigen Händen. Mein Gesicht zeigte Linien, tiefe Furchen und Pockennarben. Was ich da sah, hatte nichts mit dem zu tun, für den ich mich hielt. Ich sah aus wie ein entfernter Cousin von Lukes Vater. Einige Teile meines Gesichts und meines Körpers waren seinem entwendet worden – die strenge Kieferpartie, die großen Hände, die tiefliegenden braunen Augen –, andere aber mussten ihren Ursprung anderswo gehabt haben. Vielleicht in den Zügen eines Onkels, eines Freundes der Familie oder sogar eines ganz Fremden. Während ich in den Spiegel sah, fragte ich mich, ob ich immer schon so ausgesehen hatte oder ob sich mein Äußeres Lukes Bedürfnissen angepasst hatte. Mein Gesicht hatte die Form von Lukes Einsamkeit, aber diese Form war nun in Auflösung begriffen.
Ich schlich zurück in unser Schlafzimmer, um mich zu vergewissern, ob Luke noch schlief. Er schlief. In dem Band aus Mondlicht, das sich über seinen Körper gelegt hatte, sah ich seine kleinen Hände wie zum Gebet über der Brust gefaltet, das Kinn in die Kuhle des Halsansatzes gedrückt. Wie ich ihn beneidete. Wann hatte ich die letzte Nacht in einem solchen Frieden verbracht? Ich ließ ihn schlafen und ging aus dem Raum, pirschte durch das Erdgeschoss, auf der Suche nach dem Hund. Im kleinen Zimmer war er nicht. Auch im Staub und in der Abgeschiedenheit des anderen ungenutzten Gästezimmers schlief er nicht. Ich stieg die Treppe hinauf, horchte auf das Klacken seiner Pfoten auf dem Hartholzboden. Nichts. Die offene Bauweise des zweiten Stocks bot nur wenig Möglichkeiten, sich zu verstecken. Das einzige abgetrennte Zimmer war das von Claire, und die Tür war verschlossen. Schlief dieses Viech womöglich bei ihr? Bisher hatte sie es nie in ihr Zimmer gelassen, aber vielleicht war ihr an diesem Abend ein Gefühl von Großmut gekommen – oder Einsamkeit. Ich machte einen Schritt auf ihre Tür zu und bemerkte in dem Augenblick ein helles Aufblitzen draußen auf der Terrasse. Eine der Schiebetüren stand einen Spaltbreit offen. Eine Brise, durchdrungen vom Duft des Meeres und der Kiefern, strömte durch die Öffnung hinein. Ich ging hinaus, um ihn zu stellen.
Wie ein Häftling streifte Midnight draußen von einem Ende der Terrasse zum anderen, als hätte jemand das Tier mit einem Schlüssel aufgezogen und losgelassen. Der Hund hielt inne und reckte seine Nase schnuppernd in die Luft, als ich mich ihm näherte. Der Wind blies eisig, wie Bruchglas lag das Meer im leuchtenden Schein des Halbmondes. In einer wolkenlosen Nacht war der Himmel über Fire Island gewaltig, schwindelerregend, klar und tief. Zwischen dem Mond und seinem verzerrten Spiegelbild auf dem Meer glotzte mich dieser Hund an, mucksmäuschenstill. Er schien zu ahnen, was ich vorhatte.
Behutsam setzte ich einen Schritt nach vorn. Der Hund blieb, wo er war, zitterte, als habe er einen Motor im Leerlauf verschluckt. Kaum war er in Reichweite, stürzte ich mich auf ihn, packte ihn mit beiden Händen, aber er wand sich unter mir hervor und stürmte durch die offene Tür ins Haus. Sein Tempo überraschte mich, und mir wurde klar, dass es schwieriger werden würde, als ich gedacht hatte. Im Haus konnte ich ihn zunächst nicht finden. Das Licht wollte ich nicht einschalten, aus Angst, Claire oder Luke zu wecken. So blieb mir nur, mich in der Dunkelheit vorzutasten, in der Hoffnung, seine Bewegungen würden dieses Ding verraten. Ich wollte es mit bloßen Händen tun, es am Hals packen und zudrücken, bis es zu atmen aufhörte. Zu sehr schon hatte ich in meinen Verfall eingewilligt, war gleichgültig geworden. Es war Zeit zu handeln. Wo war dieser verdammte Köter?
Auf dem Sofa bewegte sich ein Kissen. Ich stürzte mich darauf, doch wieder war das Vieh viel zu schnell für
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