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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Gedächtnis war beschnitten, perspektivisch verkürzt. Wie bei einer Fliege. So war sein gegenwärtiger Zustand auch sein einziger. Für ihn war es jetzt so leicht, und ich glaubte nicht eine Sekunde daran.
    Erneut warf Luke den Ball, aber der Hund reagierte nicht. Irgendetwas hinter uns hatte ihn abgelenkt. Wir drehten uns um und sahen zwei Hirsche, die anmutig über den Dünenkamm zogen, stehen blieben, ihre Köpfe senkten und am Dünengras knabbernd weiterzogen. Beide hatten räudiges, zerschlissenes Fell, fadenscheinig wie ein abgegriffenes Kleidungsstück. Sie wirkten krank, waren es vermutlich auch. Überall liefen diese Dinger hier herum, wie eine Seuche. Claire hatte uns erzählt, dass sie vor Hunderten von Jahren auf die Insel gekommen waren, als der größte Teil der Great South Bay noch Sand war. Der Wasserspiegel stieg an, und die Hirsche wurden eingeschlossen, ausgesetzt ohne einen einzigen Feind, ohne Angst, um schließlich fett, krank und selbstzufrieden zu werden. Nun liefen sie frei herum, fraßen Blumen, verbreiteten Infektionen. Sie beobachteten uns vom Dünenkamm aus. Wir bedeuteten ihnen nichts. Claire ging auf die Terrasse und rief Luke zum Frühstück herein.
    Sie stellte ihrem Sohn einen Teller Pfannkuchen mit Schokostückchen hin, trank dann ihre Kaffeetasse aus und verkündete, dass die untere Terrasse neu gestrichen werden müsse. »Als Geste des guten Willens für unsere Gastgeber. Sie müssen John Bellwether dann für eine Arbeit weniger bezahlen.« Sie legte ihre Hand an Lukes Stirn. »Ich werde eine Weile unten sein, aber Midnight leistet dir sicher Gesellschaft.«
    »Und was ist mit mir?«, fragte ich.
    Claire sah einen langen Augenblick zu Luke hinunter. »Es war richtig, dass wir hierhergekommen sind«, stellte sie sachlich fest. »Wir beide allein. Hier bist du in Sicherheit. Es tut mir leid, dass ich … manchmal verschwinde. Aber du weißt ja, wie sehr ich dich liebe.« Luke nickte, sagte aber nichts, und sie nahm ihre Hand von seinem Kopf und ging hinunter. Durch das Fenster beobachtete ich, wie sie die Haare zu einem Pferdeschwanz zurückband und einen Farbeimer aus dem Stauraum unter dem Haus hervorzog. Der Eimer war verbeult und mit Roststellen übersät, als hätte er Jahrzehnte dort unten gestanden. Claire hielt einen Moment inne und krempelte die Ärmel hoch, um das schuppige Grau zu prüfen, das das rohe Holz der Terrasse nur noch dürftig bedeckte.
    Luke saß am Frühstückstisch, sein Gesicht in einer zweiten Portion Pfannkuchen versunken. Sie waren widerwärtig, ein Stapel schleimiger Scheiben, ertränkt in einem See aus zuckertriefendem Sirup. Der Vorgang des Essens reduziert Menschen auf Tiere. Ich saß am anderen Ende des Tisches und beobachtete ihn, verzog aber keine Miene. Der Hund sprang vom Sofa und schmeichelte sich bei Luke ein, indem er sich zu seinen Füßen niederwarf. Er gab ihm ein Stück von dem Pfannkuchen und meinte: »Erzähl das ja nicht meiner Mutter.«
    Ich deutete auf seinen Teller. »Scheint so, als wären Pfannkuchen seine Leibspeise.«
    »Ja, ich gebe ihm immer etwas ab, wenn Mom nicht hinsieht.« Geheimnistuerisch drehte er sich um. »Ich glaube, dass er mich deshalb lieber mag.«
    Ich betrachtete die dunkelrote Zunge, die Lukes ausgestreckte Finger abschleckte. »Vielleicht hast du recht. Aber ich weiß etwas, wofür er dich noch mehr lieben wird.«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Ich zeig’s dir, wenn du mir nicht glaubst.« Ich stand auf und ging hinüber zu Claires Schlafzimmer. »Komm, willst du es nicht sehen?«
    Er hüpfte vom Stuhl und folgte mir in das schummrige Eckzimmer. Wir stiegen über die verstreuten Manuskripte und Bücher, die Claire in dem alten, gigantischen Schrankkoffer auf die Fähre geschleppt hatte, Bücher, die sie stapelweise hortete wie einen gestohlenen Schatz. Viele gebundene Ausgaben trugen das Logo der Nightingale Press auf dem Rücken, die schlichte Skizze eines Vogels im Flug. Die Manuskripte stapelten sich an der Wand, lehnten gegeneinander und bildeten wacklige Türme aus Papier. Die Ränder und der ausgedruckte Text waren mit Rotschrift bekritzelt, und alles schien so chaotisch, dass es schwer war, sich vorzustellen, dass sie irgendetwas Nützliches vollbracht hatte. Wir gingen weiter zur Tür von Claires Bad in der hinteren Ecke. Luke zögerte und sah nervös ins Wohnzimmer zurück. »Wir dürfen hier nicht rein, hat meine Mutter gesagt.«
    Ich linste durch das kleine Fenster über Claires ungemachtem Bett.

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