Der Andere
sich vor den Küchenfenstern aneinanderreihten.
Aber sie war selten gut gelaunt, und das gefiel mir sehr. Meistens verschanzte sie sich in ihrem Schlafzimmer, schlief oder sprach in etwas, von dem ich annahm, dass es ein Telefon war, ohne dass ich in dem Raum jemals eines wahrgenommen hätte. Ich brauchte sie nicht in meiner Nähe. Die Art, wie sie den Mund verzog oder die Stirn runzelte, jedes Mal, wenn Luke mich erwähnte. Und ich teilte auch nicht ihre Niedergeschlagenheit. Geisterhaft schwirrten sie und Luke um das Haus herum, während ich mich so stark und vital fühlte wie nie zuvor. Die melancholische Stimmung auf der Insel war gesättigt, reich an Nahrung. Ich liebte die Stille der Stadt. Es gab nur wenige Menschen, die ihren schmutzigen Atem über mir verströmten, deren eklige Körper meinen berühren konnten. Dort draußen waren wir allein, und täglich wandte sich Luke mir mehr zu. Unsere Spiele gewannen an Komplexität. Diese bizarre Welt hinter der Welt mit ihren Dinosauriern und Magiern, sprechenden Elefanten und doppelköpfigen Tigern behauptete sich mit drangvoller Beharrlichkeit. Wir entdeckten Pygmäen, die sich im Dünengras duckten, und Felsen auf Stelzen, die am Strand entlangstolzierten. Im Schatten einer Kiefer entstanden an einem einzigen Nachmittag ganze Imperien und gingen wieder unter.
Als wir jedoch an diesem Morgen zum Haus zurückkehrten, wusste ich, dass sich etwas verändert hatte. Claire trug Jeans und einen hübschen Rollkragenpullover statt ihrer üblichen Jogginghose und des Flanellhemds. Vor ihrem lächelnden Gesicht klatschte sie in die Hände: »Okay! Luke, Liebling, was möchtest du heute machen?«
Er setzte sich an den Küchentisch. »Ich habe Meerglas mitgebracht«, sagte er.
Claire zog sich einen Stuhl heran. »Gut, und danach machen wir, was immer du möchtest, heute und jeden Tag. Die einzige Bedingung ist, dass wir es gemeinsam tun können, wir beide. Das ist alles.«
Sie einigten sich auf eine Runde Schach, danach spielten sie Galgenmännchen. Sie verbrachten Stunden mit dem Bau eines Lego-Schlosses, das sie in einem muffigen Schrank ausgegraben hatten, vollständig, mit Burggraben, Zugbrücke und einem Bataillon Ritter. Am Nachmittag, als sich der Nebel aufgelöst hatte, stiegen sie in ihre Gummistiefel und unternahmen einen Strandspaziergang. Ich war nicht eingeladen, und selbst wenn ich gewollt hätte, fühlte ich mich mit einem Mal viel zu schwach, um das Haus zu verlassen.
Von der oberen Terrasse aus sah ich ihre Körper zu zwei Punkten schrumpfen, eingerahmt vom Meer auf der einen und den Dünen auf der anderen Seite. Seit dem Frühstück hatte Luke an diesem Morgen weder mit mir gesprochen noch mich angesehen. Er hatte mich völlig vergessen. Ich trieb mich im Wohnzimmer herum, benommen und schwerelos. Ich drückte meinen Rücken gegen die Küchenwand, glitt auf den Boden hinab und schlang die Arme um die Knie. Das Gefühl der Fliesen unter den Füßen wich langsam und entschwand schließlich ganz. Finsternis schlug jäh über mir zusammen, grauenhaft und absolut. Schwerelos blieb ich der Dunkelheit überlassen, dem schattenhaften Zwilling des Schlafs, bis ich schließlich das Klicken der Haustür, die unten geöffnet wurde, und Lukes Füße, die die Treppe hinaufgetippelt kamen, vernahm. Er stürzte sich sofort auf den Kühlschrank, um sich ein Glas Apfelsaft zu holen, und sah gar nicht, wie ich da, zu einem Ball zusammengerollt, in der Küchenecke hockte. Als er mich schließlich entdeckte, meinte er nur: »Was machst du denn da? Der Boden ist schmutzig«, bevor er wieder hinunterlief, wo ich Claire seinen Namen rufen hörte.
4 . Kapitel
D rei grauenhafte Tage später saß ich auf dem karierten Wohnzimmersofa und versuchte, mein angeschlagenes Wohlbefinden wieder instand zu setzen. Ich dachte an den Schulbus, den wir auf dem Strand gesehen hatten, an diese Schar beleibter kleiner Kinder, die darin zusammengepfercht waren. Sie alle konnten sich ihrer Körper und ihres Lebens sicher sein, während ich von den flatterhaften Launen eines Sechsjährigen abhängig war. Ich versuchte, Luke zu erklären, wie ich mich fühlte, aber ich konnte ja nichts beweisen. Er konnte das Problem gar nicht erkennen, denn es zu erkennen hätte bedeutet, es zu lösen.
Am Küchentisch, an dem die beiden saßen und wieder Dame spielten, zwickte Claire ihren Sohn in den Arm und eröffnete ihm, dass sie eine Überraschung für ihn habe.
»Was ist es?«, wollte er wissen. »Sag
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