Der Andere
drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.
»Ziehst du die Jalousie bitte runter?«, bat sie mit schläfriger, unterdrückter Stimme. Ich erhob mich vom Boden und tat, worum sie mich gebeten hatte. Das Sonnenlicht zeichnete leuchtend weiße Kanten an den Umrissen des dunkelgrünen Vinyls.
»Du bist ein Schatz, Luke«, sagte sie, dann war sie still. Lang und gleichmäßig schwebten ihre Atemzüge durch den dämmrigen Raum. Ich stand noch eine Weile am Fenster, betrachtete die Form ihres Körpers, die sich unter der Decke hob und senkte. Wie ein eigenständiges, außergewöhnliches Wesen pulsierte ihr gefärbtes Haar auf dem Kissen. Ich ging einen Schritt näher heran, als mich mit einem Mal das Gefühl überkam, dass Luke mich beobachtete, aber von irgendwo innen, in mir. Ich reichte über seinen Schreibtisch hinweg und nahm eine der Noh-Masken vom Haken, setzte sie auf und legte den Draht um den Hinterkopf. Unter der Maske roch es nach Holz und Fäulnis, der muffige Geruch alter Bücher. Mein Atem hallte mir in den Ohren.
Ich trat näher an das Bett heran und beugte mich über Cassie. Ihr Körper war schlaff, als ich sie von der Wand wegzog, durch den dünnen Baumwollstoff ihres T-Shirts hindurch strahlte ihre Haut Wärme ab. Ein kleiner Speichelfleck auf dem Kissen markierte die Stelle, an der ihr Mund gewesen war, hinter ihren Augenlidern gab es nicht das leiseste Zucken. Die Tranquilizer taten ihre Wirkung. Dennoch war ich vorsichtig, als ich das Laken vom Körper zog. Die Shorts waren verrutscht und hatten sich in einem Ring um die Hüfte gelegt, der schwarze Rand ihrer Unterwäsche lugte darunter hervor. Auch das T-Shirt hatte sich über ihrem Bauch hochgearbeitet, und ich machte mich an die delikate Aufgabe, es von ihrer Haut abzuheben und in Richtung ihrer Schultern hochzuschieben. Den BH hatte sie ausgezogen, ohne dass ich es bemerkt hatte, und ich zögerte einen Augenblick, als ich ihre Brüste erreicht hatte. Mit einer Hand hielt ich das T-Shirt hoch und streckte die andere etwas aus, um zunächst den einen, dann den anderen Nippel zu streicheln. Die Haut an dieser Stelle war samtweich und hatte die Farbe von feuchtem Kalk, umgeben von winzigen, fast unsichtbaren weißen Härchen.
Ich streichelte sie erneut, und sie bewegte sich, verlagerte ihr Gewicht leicht, aber spürbar von einer Hüfte auf die andere, als plötzlich der heftigste, durchdringendste Schmerz in meiner Stirn explodierte, den ich jemals erfahren hatte. Es schien, als bahne sich ein glühend heißer Speer seinen Weg durch die Innenwand meines Schädels hindurch ins Freie. Ich taumelte vom Bett weg, ein Reißen peitschte durch mein Gesicht. Dieser gewaltige stechende Schmerz machte sich in meinem Kopf breit, und verärgert spürte ich, wie ich zornig mit großer Kraft zur Seite gezogen wurde. Ich fiel gegen den Schreibtisch, und als ich das Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, sah ich Luke zwischen mir und dem Bett stehen, der rote Mund der Noh-Maske grinsend wie eine frische Wunde.
Acht Stunden später brachte Luke Cassie zum Zug Richtung Norden. Danach stieg er auf die alte Platane im Hof hinter unserem Wohnheim. Keiner von uns hatte geschlafen. Während des Vormittags bis weit in den Nachmittag hinein hatte Luke am Bett Wache gehalten, bis Cassie vollkommen derangiert und ohne Erinnerung aufwachte. Ich stand während der Zeit an eine Wand gelehnt, sah ihn an, wie er mich ansah. Es hatte gar keinen Sinn, etwas zu leugnen oder sich für etwas zu entschuldigen. Kein Wort hatten wir miteinander gewechselt. Cassie gab Luke einen Kuss auf die Wange. Sie hatte ein Palästinensertuch um den Hals geschlungen, das halbe Gesicht hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen. Dann bestieg sie den Zug und war fort.
Aus einer Höhe von fast zehn Metern sahen wir durch ein Geflecht toter Zweige auf den Hof hinunter. Die Sonne ging langsam unter, und wir sahen zu, wie sich die Kelche der Straßenlaternen nacheinander mit Licht füllten. Ein Fahrrad – Marke Schwinn, dessen Rostschicht das ursprüngliche Dunkelgrün an wenigen Stellen noch erahnen ließ – schwebte über uns, verkeilt in der Gabelung zweier Äste, als sei es von einer Flutwelle hergeschwemmt worden. Die Reifen waren abgefahren, und ein verblichener Tennisball war zwischen die vorderen Speichen geklemmt worden. Während unserer ersten Monate war Luke immer gern hier hochgeklettert, um bei dem Fahrrad zu sitzen und sich raffinierte Geschichten darüber auszudenken, wie es
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