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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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des Gebäudes bog und Cassie entdeckte, an eine Betonwand gelehnt, und Richard, der sich an sie drückte, die Hände in den Bund ihrer Jeans eingehakt, die Gesichter rührselig zusammengesteckt. Bis auf wenige Meter näherte ich mich, bevor ich stehen blieb. Richard fuhr mit der Hand unter Cassies weiten Pulli und schob ihn hoch. Die Haut blitzte schneeweiß auf, ihr Bauch fiel nach innen, während sie tief einatmete, der unterste Rippenbogen stand vor. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie lachte. Ein hoher, klarer Klang, unerwartet laut in der Stille des Parkplatzes. Die Lederschachtel lag ein Stück weiter an den Reifen eines Kombis gelehnt. Cassies blondierter Bob zog eine Schleppe über den Beton, wenn sie den Kopf von einer Seite zur anderen neigte. Ich wollte etwas sagen, damit sie aufhörten, aber mein Mund war wie zugeschnürt. Meine Zähne mahlten aufeinander, und die Zunge lag fett und träge am Gaumen. Ich drehte mich um und ging den Weg zurück, den ich gekommen war.
    An einer Seite des Hauses führte eine Treppe von der Veranda hinunter auf den Rasen. Ich setzte mich auf die Stufen und sah zum Zelt rüber. Ich hörte das monotone Hämmern des Techno, konnte aber nicht ausmachen, ob es aus dem Zelt kam oder von irgendwo aus meinem Schädel. Ich schüttelte den Kopf, die Klänge wirbelten heraus, schraubten sich in die Luft und landeten verteilt auf dem Rasen. Im Osten hellte sich der Himmel auf. Die Kids gingen an mir vorbei, über die Terrasse, zum Zelt und wieder weg, über den Rasen, ins Haus hinein. Irgendwann legte sich das Brummen in meinem Kopf und verstummte schließlich ganz. Die Musik verebbte allmählich, mir wurde langsam kalt, und ich beschloss, nach Hause zu gehen.
    Ich ging die Allee entlang, vorbei an den stummen Fassaden von Häusern im georgianischen und Tudor-Stil. In einigen Schlafzimmern im zweiten Stock brannte Licht, die meisten aber waren dunkel. Die Häuser zogen sich in sich selbst zurück, verrieten nichts. Ich bog zum Campusgelände ab, ging vorbei an dem flachen, bedrückt wirkenden Viereck der Ingenieure, dem Gebäude der Computerwissenschaftler, der technisch-kühlen Fassade aus schwarzem Glas der Wirtschaftswissenschaftler. Ich kam zu dem einsamen Weg, der die Grenze zwischen College und Stadt markierte. Die idyllischen Lädchen waren geschlossen, die blitzsauberen Gehwege menschenleer. Zwei Wagen der Bezirkspolizei fuhren aneinander vorbei, sonst war auf der Straße niemand zu sehen. Mit gesenktem Kopf ging ich auf der Universitätsseite der Straße und betrat das Campusgelände durch die Eisentore.
    Ich schlich mich in unser Zimmer, gerade als sich die Sonne im Osten über den Dächern erhob. Nate war nicht da, vielleicht im Zimmer seiner neuen Freundin, bemüht, uns aus dem Weg zu gehen. Der Raum war also leer. Ein Flimmern vor den Augen versetzte die Gegenstände in eine diffuse Unruhe, als hätten sie sich nur einen kurzen Augenblick zur Ruhe begeben. Ich ließ mich auf Lukes Schreibtischstuhl nieder, spürte mit einem Mal eine schmerzhafte Mattigkeit, konnte mich aber nicht dem Schlaf hingeben. Cassie musste ja irgendwann hierher zurückkommen, und ich wollte wach sein und sie begrüßen. Unterdessen wusste ich nicht, wo Luke geblieben war. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass wir für eine so lange Dauer voneinander getrennt sein konnten. Aber im Augenblick war diese Idee zu kompliziert, um ihr konzentriert folgen zu können. Gedankenverloren nahm ich einen Quarter von Lukes Schreibtisch und rollte ihn über die Fingerknöchel, vor und zurück. Das Metall blinkte im hellen Morgenlicht. Ich ließ die Münze in meine Hand springen. Ich saß da, müde und massiv, unscheinbar. Nur eines war seltsam: Wie war es möglich, dass ich dieses Ding in den Händen hielt? Ich betrachtete die Hand unter der Münze. Ihre Haut war blass, nahezu durchsichtig, ihre Finger lang und zart. Ich legte das Geldstück auf den Schreibtisch zurück und nahm einen Bleistift. Einen Augenblick lang hielt ich ihn zwischen zwei Fingern vor mein Gesicht, nahm ihn dann mit beiden Händen und zerbrach ihn einfach in zwei Teile, die ich auf den Boden fallen ließ. Ich habe es getan, dachte ich. Ohne Erlaubnis oder Aufsicht. Ich war es. Diese Erkenntnis verband sich mit einem seltsamen und wunderbaren Gefühl. Aber noch bevor ich über diese neue Situation nachdenken konnte, rüttelte es an der Türklinke. Dann bebte die Tür und sprang auf. Da stand Cassie, kichernd, mit roten Bäckchen

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