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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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alles gegeben, um mit ihr zu reden und ihr zu sagen, was ich für sie empfand.
    »Sag deiner Mutter bloß nicht, dass du es weißt«, fügte sie hinzu. »Sie hatte mich angerufen und mich gebeten, herzukommen und nach dir zu sehen.«
    »Was sagst du da?«
    Ihre Pupillen waren weit geöffnet, und sie strich über Lukes Sweatshirt, als sei es aus Seide. »Sie sagt, dass du nie zurückrufst. Sie klang ziemlich verärgert.«
    Daher also. Deshalb hatte sich Cassies Besuch so erstaunlich einfach arrangieren lassen. Ich hätte es besser wissen müssen.
    »Sie soll sich besser um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern«, sagte Luke.
    Cassie lachte geistesabwesend. »Aber Luke, du bist ihre Angelegenheit, mehr als alles andere. Und du wirst es immer sein. Weißt du das nicht?«
    Sie tippte Luke an die Stirn und wandte sich wieder Richard zu, der ihr eine Zigarette anbot. Eine Meute in Klamotten aus Fallschirmseide und mit Schnullern im Mund tanzte um uns herum wie Roboter. Ein zweiter DJ schob den ersten zur Seite. Er trug eine Gasmaske, kein Hemd. Seine Brust war kränklich eingesunken und glatt. Er lenkte einen Suchscheinwerfer durch das Zelt, als sei er auf der Suche nach Überlebenden. Brummende, unangenehme Klänge strömten aus den Lautsprechern, denen sechzehn Bars weiter eine donnernde Basstrommel folgte. Plötzlich war alles weg, bis auf einen einzigen Keyboard-Akkord, der an Stärke zunahm, zu etwas Gewaltigem heranwuchs. Die Leute schwenkten Feuerzeuge über den Köpfen. Dann wallte die Musik wieder auf und explodierte in eine ganz andere Richtung, die Basstrommel wie Artillerie. Jaulend umkreiste eine Hupe mein Hirn, das absolute Chaos innen wie außen.
    Die Zeit danach verstrich auf zähe und sonderbare Weise, wie ein mit Vaseline eingeschmiertes Schwein. Immer wieder verlor ich Luke aus den Augen, dann tauchte er plötzlich an meinem Ellbogen wieder auf, die Augen weit aufgerissen und die Zähne zusammengepresst. Die Lautstärke ließ keine Unterhaltung zu, die Stroboskope schwankten und flackerten. Ich beobachtete Luke, wie er seine zweite Pille einwarf und auch diese trocken schluckte. Ich sah, wie Richard die Gegend durchkämmte, Leute beiseitezog, einen Griff in seine Schachtel tat. Was er da tat, hatte den Anschein von etwas Uneigennützigem, Selbstlosem, und ich wollte ihm sagen, dass er einen guten Job machte. Aber ich konnte Cassie nirgends finden. Luke tauchte an meiner Seite auf, um genauso schnell wieder zu verschwinden. Die Luft wurde immer stickiger, füllte sich mit Rauch und Schweiß. Ich vernahm den Geruch von Pot und den scharfen verbrannten Gummigestank von Amylnitrat. Mit weit ausgebreiteten Armen und fest geschlossenen Augen stellte ich mich vor einen Industrielüfter. Mein Verlangen nach Berührung war unbändig und qualvoll. Ich konnte den Schweiß spüren, der mit quälender Präzision auf meiner Haut trocknete, die Feuchtigkeit, die entwich und kleine Plättchen zurückließ, die aussahen wie die Schuppen einer Schlange. Ich musste raus.
    Ich wählte den Hinterausgang, ging hinter den Lautsprechern her, zwängte mich durch einen Schlitz im Zelt, um kühle, frische Luft in mich aufzunehmen. Ich sah einen Typen, der hinter einem der vielen Mansardenfenster an seinem Computer saß und tippte. Ich hatte ganz vergessen, dass ich mich auf dem Rasen von irgendjemandem befand, dass die Zeit für die übrige Welt nicht aus den Fugen geraten war. Ich drehte mich um und sah zum Zelt hinüber. Von außen wirkte es so viel kleiner, dass ich schon fürchtete, Opfer einer optischen Täuschung geworden zu sein. Aber die Welt um mich herum normalisierte sich nicht so, wie ich es erwartet hatte. Gegenstände behielten ihre Aura, königliche Heiligenscheine schwebten über Straßenlaternen. Cassie, dachte ich. Wo ist sie?
    Ich ging hinter das Haus, verließ den Rasen und betrat einen kleinen Betonplatz. Die Autos schimmerten wie mit Zuckerguss überzogen. Ich konnte meinen Atem sehen, so dass ich davon ausging, dass es kalt war. Dennoch schien es mir, als verbänden sich die Luft und meine Haut mit derselben Temperatur. Der Raum um mich herum bildete die Erweiterung meiner selbst, mein Körper kehrte sein Inneres nach außen, öffnete sich der Welt. Mein Geist reichte hinaus und ordnete Objekte um mich herum an. In Gedanken war ich bei einem scharlachroten Jeep, bevor ich ihn wirklich sah, stellte mir eine Katze vor, bevor sie vorbeischoss. So war ich auch gar nicht überrascht, als ich um die andere Ecke

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