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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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und so wunderschön, voll und ganz damit beschäftigt, ihren geborgten Schlüssel aus dem Schloss zu zerren. Sie riss ihn heraus, sah mich und stutzte. Lächelnd blieb sie im Türrahmen stehen. »Wo warst du?«, fragte sie. Sie schwankte leicht, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. »Ich habe dich gesucht.«
    Ich erhob mich behutsam vom Schreibtischstuhl. Ein fremdartiges Gefühl von Steifigkeit und quälendem Schmerz durchfuhr Kiefer, Füße und meinen Schädel. Das durch das Fenster einfallende Licht war unerträglich grell und fuhr Cassie, einer Beleidigung gleich, über das Gesicht.
    »Es gibt Momente, da reicht es einfach«, sagte ich. »Wo ist Richard?«
    Sie zuckte die Schultern und zupfte an ihrem Pulli. »Abgestürzt in seinem Zimmer. Wir hatten wohl alle genug, nehme ich an.« Sie deutete auf das leere Etagenbett. »Ist das frei? Ich bin total fertig.«
    »Ja«, entgegnete ich. »Nimm das untere.«
    Sie seufzte schwer und zog den Pulli und die Jeans aus. In Unterwäsche und BH war ihr Körper glatt und weiß wie Marmor, genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Das winzige, scheinbar neue Tattoo eines Kompasses schwebte auf ihrem linken Schulterblatt, und ein Ring zarteren Fleisches umgab ihren Körper genau über dem Bund ihrer Unterwäsche. Ich stand etwa einen Meter von ihr entfernt und wagte nicht, mich zu bewegen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Körper bei der leisesten Bewegung in alle Richtungen zerspringen und dann auf dem Boden zerfallen würde. Auf der Suche nach einem T-Shirt und Shorts kramte sie in ihrer Tasche herum und zog schließlich ein Pillendöschen aus einer Innentasche hervor. »Xanax«, sagte sie und schob sich eine davon in den Mund. »Damit man wieder runterkommt. Willst du auch eine?«
    »Danke, nein. Mir geht’s gut.«
    »Du musst auch mal schlafen.«
    »Klar.«
    Sie sah mich einen Augenblick an, legte sich dann in das untere Bett, lagerte ihren Kopf auf dem Kissen und stopfte sich das Laken unter das Kinn wie ein kleines Mädchen. Ich stand einfach nur da, mitten im Raum, und sah sie an. Es war, als hätte ich vergessen, was man, wenn überhaupt, von mir erwartete. Sie leckte sich über die Lippen und zeigte auf den Tisch hinter mir. »Dreh mir eine Zigarette, und ich werde dich für immer lieben.« Wie hypnotisiert drehte ich mich um und starrte auf den Tabakbeutel und das Päckchen mit den Blättchen. Ich wusste nicht, was als Nächstes kommen würde, und das musste sie bemerkt haben, als sie sagte: »Kein Problem, ich sag dir, wie das geht.« Ich lauschte ihren Anweisungen. Ich legte ein Blättchen in die Hand und ließ den Tabak darauf rieseln. Dann nahm ich das Ganze zwischen zwei Finger und rollte das Röhrchen vor und zurück, strich es dabei glatt, bis es gleichmäßig war. Schließlich leckte ich den Rand an und klebte es zu. Es lässt sich schwer beschreiben, wie sich all das anfühlte. Alles schien zu leben, die Tabakkrümel, das Papier in meinen Händen, der Klebestreifen, der vibrierend über meine Zunge schlüpfte wie der Flügel eines Insekts. Von unglaublichem Stolz erfüllt, betrachtete ich das fertiggestellte Produkt von allen Seiten.
    »Gold Star«, sagte Cassie. Sie streckte ihre Hand aus, und ich ließ das Ding zusammen mit einem Streichholzbriefchen, das ich auf dem Schreibtisch gefunden hatte, in ihre Hand gleiten. Mit überkreuzten Beinen setzte ich mich neben das Bett und sah ihr zu, wie sie ein Hölzchen anriss, es mit der Hand schützte und zu ihrem Gesicht führte. Wie eine Gewitterwolke schwebte der bläuliche Rauch um unsere Köpfe. Ich wollte ihr sagen, wer ich jetzt war, wusste aber nicht, wie ich es anstellen sollte. Sie würde mich sehen und Luke erkennen. Aber nicht nur das. Sie würde einen Luke sehen, der die Kontrolle über sich verloren hatte, einen Luke, der sich etwas vorgemacht hatte und verzweifelt war. Ich brauchte Zeit, um mich stückchenweise zu enttarnen, so dass, wenn der Moment gekommen wäre, an dem ich ihr alles sagen konnte, schon ein Teil von ihr Bescheid wüsste. Diese Zeit hatte ich aber nicht. Ich war mir gewiss, dass ich Lukes Körper nur vorübergehend besetzen konnte. Zu leicht war es gewesen, um länger als nur ein paar vage, zufällige Stunden Bestand zu haben. Stattdessen saß ich nun wortlos da. Beide schwiegen wir, bis sie ihre Zigarette aufgeraucht hatte, um uns herum nichts als das Knistern des zu Asche verbrennenden Papiers. Als sie fertig war, warf sie die Kippe in eine halbleere Wasserflasche und

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