Der Andere
hierhergekommen war: Katapulte, Telekinese, unbekannte Magnetfelder. An jenem Abend aber war er still und sah einfach nur hinunter auf die Köpfe der Studenten, die über den Hof liefen. Schließlich brach ich das Schweigen: »Was soll nun geschehen?« Luke lehnte sich an den Stamm, saß rittlings auf einem knorrigen Ast, violette Blutergüsse überzogen seine halb geschlossenen Augen. Ich hatte plötzlich Angst, dass er einnicken und vom Baum fallen könnte. »Also?« Aber er wollte mir nicht antworten. So saßen wir schweigend hoch oben in den Ästen, bis sich der Himmel vollständig verdunkelt hatte und der Abstieg einem Abstieg in den Schacht eines Brunnens gleichkam.
Um zehn Uhr am nächsten Morgen standen wir wieder am Campus-Bahnhof. Nach zwölf Stunden Schlaf sah Luke nicht mehr krank aus, aber er war immer noch verschlossen. Die Fahrt in die Stadt war wie jede andere. Müllübersäte Böschungen neben den Gleisen, triste Häuser mit blättrigem Anstrich und scheußlichen Spielgeräten auf dem Rasen, der flüchtige, undeutliche Blick auf den hoffnungslos verstopften Turnpike, riesige Schiffscontainer im Hafen von Port Elizabeth, Flugzeuge, die in der Nähe des Newark Liberty kreischend über uns hinwegzogen. Auch die Penn Station war unverändert: schmutzig, übelriechend, überfüllt. Befallen von widerwärtigen Exemplaren des
animal humanum.
Ich stellte mir gerne vor, wie es hier wohl ohne Menschen aussehen mochte: ein leerer Zug, eine ausgestorbene Eighth Avenue, ein verlassener Times Square. Nicht eine Stelle konnte ich mir vorstellen, an der es so nicht besser wäre. Auch die schmuddelige und düstere Penn Station würde durch eine solche Befreiung geadelt.
Wir nahmen die U-Bahn zur 96 . Straße. Die meisten Menschen in unserem Abteil sahen aus, als säßen sie lieber in ihren Apartments, lägen lieber in ihren Betten, fern von der Stadt und allen, die sie belebten. Mit ihren Körpern nahmen sie eine Verteidigungshaltung ein, begehrten auf gegen das Kreischen des Zuges, die unerwünschte Beachtung durch andere Passagiere. Einige schliefen, jedoch mit offenem Mund, so dass sie schlechte Luft in Umlauf brachten. Am Columbus Circle stieg eine Gruppe Jugendlicher ein, bepackt mit Einkaufstüten, und ich zog mich zu den gegenüberliegenden Türen zurück. »Was tun wir hier eigentlich?«, fragte ich. »Ich wollte nicht zurück.«
»Mich interessiert nicht, was du willst«, entgegnete Luke, schlug sich aber noch im selben Moment die Hand vor den Mund, als hätte er gegen eine neue Regel verstoßen, die er sich selbst auferlegt hatte.
An unserer Haltestelle stiegen wir als Einzige aus. Der Park duckte sich flach und nass unter schweren Wolken, alles war von bräunlichgrauen Schattierungen überzogen. Ein Portier, dessen Namen ich mir nie merken konnte, ließ uns in den Eingangsbereich hinein und nickte Luke zu. Wir gingen zum Aufzug, und ich spürte, wie uns sein Blick durch die Marmorhalle folgte. Nachdem sich die Aufzugtüren geschlossen hatten, sagte ich: »Möchtest du mir vielleicht sagen, wie lange wir bleiben werden?«
Luke setze ein schwaches Lächeln auf. »Warum? Hast du etwas anderes vor?« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, schlug er mit der Faust gegen die Wand und fluchte: »Scheiße. Kannst du bitte mal einen Augenblick den Mund halten? Es würde alles leichter machen.«
»Leichter? Was?«, bohrte ich nach.
Luke antwortete nicht. Der Aufzug setzte uns im dritten Stock ab. Luke schloss die Wohnungstür auf, und wir betraten die Diele, die uns so vertraut war: das Logo der Nightingale Press, in Kohle gezeichnet, seltsame Schwarzweißdrucke. Es brannte kein Licht, und das Apartment war leer. Wir blieben nicht lang. Luke stellte seine Tasche in seinem Zimmer ab und telefonierte, um einen Termin zu vereinbaren, wobei ich nicht genau verstehen konnte, worum es ging. Dann ging er in Claires Schlafzimmer und öffnete die Tür des zweiten Schranks, in dem sie Venetias Sachen aufbewahrte. Der Schrank war begehbar, fast schon ein kleines Zimmer, mit einem riesigen Spiegel an der hinteren Wand und Ständern für Kleider und Röcke und Mäntel, die in zwei Reihen zu beiden Seiten aufgehängt waren. Luke streckte den Arm aus, zog an der Lampenkordel, und die Kleider erhielten ihre Farben zurück, Scharlachrot, Türkis und Pflaume in Gingham-, Pepita- und Pünktchen-Mustern. Ihre Umrisse zeichneten sich unter dem Seidenpapier ab, und ihre Plastikhüllen raschelten, als Luke sich hinabbeugte und mit
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