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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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den Händen über Pumps, Stiefel und Sandalen strich, die auf dem Boden in einer Reihe standen. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, bemerkte er das Cocktailkleid, das auf der Innenseite der Schranktür an einem Haken hing. Er griff in die schwarze Seide, rieb sie zwischen den Fingern und ließ sie wieder fallen. Das Kleid glitt zurück, eine leere Hülle aus Stoff. Dann löschte er das Licht, und wir verließen das Apartment.
    Wir gingen die Central Park West entlang, bogen rechts ab in die 83 . Straße, als mir mit einem Mal klarwurde, wohin wir gingen. »Muss das wirklich sein?«, fragte ich, aber Luke wollte nicht mehr mit mir reden. In Dr. Claymores Wartezimmer schenkte uns die Dame am Empfang ein steifes Lächeln: »Ich glaube nicht, dass er vor dem späteren Nachmittag etwas frei haben wird, Luke.« »Das sagten Sie schon am Telefon«, entgegnete Luke, »aber ich warte gern.« Wir nahmen Platz. Uns gegenüber saß eine Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß, das etwa sechs Jahre alt war. Es wand sich, wühlte im Haar seiner Mutter, trampelte mit den Füßen auf ihren Schenkeln herum, als wolle es sich abstoßen, um in die Luft zu springen. Die Mutter flüsterte ihm gereizt etwas ins Ohr, worauf das Mädchen innehielt und zu uns hinübersah. Sein Blick irrte aufgeregt umher, bis er auf mich traf, dann wurde es ruhig und legte die Hände in den Schoß wie eine alte Frau. Die Mutter schaukelte es sanft auf den Knien, doch das Mädchen schien dies kaum zu bemerken. Sein schläfriger Blick haftete an meinem, bis der Lautsprecher summte und die Empfangsdame die beiden nach hinten ins Sprechzimmer rief.
    Drei Stunden und vier Patienten warteten wir, bis Claymore in seinem Terminplan eine Lücke für uns gefunden hatte. Die Mischung aus Langeweile und erwartungsvoller Spannung während dieser Stunden war, wie ich fand, Strafe genug, ganz gleich, welcher meiner Übergriffe auch immer Luke so aus der Fassung gebracht haben mochte, und das sagte ich ihm auch, als wir schließlich aufgerufen wurden. Claymore wies Luke den Weg zum Patientensessel und legte die Fingerspitzen seiner Babyhände unter dem Kinn aneinander. »Was für eine nette Überraschung«, begann er. »Was kann ich für dich tun?«
    Luke saß einen Augenblick ruhig da, als wüsste er nicht so recht, wie er anfangen sollte, sagte aber dann: »Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen, wann meine Mutter das erste Mal mit mir zu Ihnen kam.«
    »Gut, lass uns darüber reden.«
    »Ich meine es wörtlich. Wann genau war unsere erste Sitzung?«
    »Vor ungefähr dreizehn Jahren, glaub ich.«
    »Genauer bitte. Sie haben doch alles aufgeschrieben, in einer Akte, oder nicht?«
    Claymore runzelte die Stirn. »Ja, natürlich habe ich das. Aber warum ist das wichtig?«
    »Sie wollen mir doch helfen, oder? Das würde helfen.«
    Mit einem Druck auf die Taste rief Claymore die Dame vom Empfang, die wenig später ein paar dicke Aktenordner hereinbrachte. Claymore blätterte einen der Ordner durch. »Das erste Mal warst du am 9 . April hier, also vor etwa dreizehneinhalb Jahren.« Er sah durch seine Gleitsichtbrille auf. »Gleich danach haben wir mit unseren wöchentlichen Sitzungen begonnen.«
    »Was war unser Thema in den ersten Monaten?«
    »Ich könnte eine Reihe von Themen nennen, was jedoch den Inhalt unserer Sitzungen nicht treffen würde. Die einfachste Antwort ist, dass wir darüber sprachen, was dir so im Kopf herumging.« Er machte eine Pause. »Weißt du noch, worüber wir gesprochen haben?«
    Luke rieb sich mit den Handballen die Augen. »Wissen Sie, wenn ich mich erinnern könnte, dann wäre ich nicht hier, um Sie zu fragen.«
    »Vielleicht sollten wir besser darüber sprechen, was dich jetzt beschäftigt.«
    »Mich beschäftigt, dass ich nicht mehr weiß, wie alles angefangen hat.«
    Claymore beugte sich in seinem Sessel nach vorn. »Was, alles?«
    Nach einer Pause sagte Luke: »Wir hatten über den Hund gesprochen. Midnight. Er war, glaube ich, der Grund, weshalb meine Mutter das erste Mal mit mir zu Ihnen gekommen ist. Ich werfe ihr das gar nicht vor. Das ist eine furchtbare Sache, und es tut mir leid, und ich hatte ihr auch gesagt, dass es mir leidtut, auch wenn ich nicht glaube, dass mir so richtig klar war, was ich getan hatte. Sehen Sie in Ihren Unterlagen nach. Das war der Grund, weshalb sie Sie angerufen hat, hab ich recht?«
    »Das war der Auslöser, ja. Obwohl, worüber wir ja auch schon gesprochen haben, sie nicht so sehr darüber

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