Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
sie. »Vergiss es einfach.«
»Hör mal, Sam«, sagte er. »Warum sollte man sich krummmachen, wenn man nicht auch seinen Spaß haben kann?«
Vier Tage später war es mit dem Spaß vorbei.
Wes Farrells Büro im dritten Stock des Justizgebäudes ähnelte eher der Rumpelkammer des Hausmeisters. Ein paar Dutzend ungeöffnete Umzugkartons stapelten sich vor dem Fenster Richtung Bryant Street. Die ebenso eleganten wie bequemen Möbel seines Vorgängers waren ausgeräumt worden. Stattdessen hatte Farrell sich einen Schreibtisch und ein paar Stühle aus anderen Büros zusammengeklaubt. Er hatte auch seinen Miniatur-Basketballkorb mitgebracht und an ein Bücherbrett geschraubt.
Farrell gegenüber, auf zwei Klappstühlen, saßen Cliff und Theresa Curtlee. Sie hatten ihm bereits zu seiner Wahl gratuliert und schauten sich nun vielsagend an. Sie waren Eigentümer des »Courier«, San Franciscos zweitgrößter Zeitung, und hatten in den verschiedensten Geschäftsfeldern – Müllabfuhr, Abschleppdienst, Import-Export – eine Menge Erfahrung darin, im Teamwork ihre Interessen durchzuboxen. Und auch für ihr jüngstes Projekt hatten sie hochgesteckte Erwartungen. Sie hatten sich in Farrells Wahlkampf als größzügige Spender gezeigt, hatten im »Courier« schmeichelhafte Porträts veröffentlichen lassen und sich schließlich auch offiziell für seine Wahl zum Staatsanwalt ausgesprochen.
Farrell hatte sich auf das Treffen gewissenhaft vorbereitet. Ro, ihr Sohn, hatte zehn Jahre hinter Gittern verbracht. Für Vergewaltigung und Mord an Dolores Sandoval, einem ihrer Hausmädchen, war er zu »25 Jahren bis lebenslänglich« verurteilt worden. Am Tag vor Farrells Wahl hatte der Oberste US -Gerichtshof den An trag abgewiesen, die Entscheidung des Bundesberufungs gerichts zu widerrufen, das einen neuen Prozess angesetzt und den Fall nach San Francisco zurückverwiesen hatte. Das Bundesberufungsgericht hatte das Urteil aufgehoben und sich dabei über das kalifornische Berufungsgericht und den Obersten Gerichtshof in Kalifornien hinweggesetzt.
Offensichtlich hatte Cliff seiner Frau das Zeichen gegeben, das Gespräch zu eröffnen. Sie räusperte sich, und ihr in Botox erstarrtes Gesicht zuckte mit der Andeutung eines Lächelns. »Wir möchten mit Ihnen über Roland sprechen, unseren Sohn, wie Sie vielleicht schon vermutet haben.«
Farrell lächelte, um möglichst vertrauenerweckend zu wirken. »Ich dachte mir schon, dass es sich darum handeln könnte.«
»Es geht darum«, Cliff rückte mit dem Stuhl näher, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, »dass er unschuldig ist.«
»Dieser ganze Prozess war eine Farce«, fügte Theresa hinzu, »und wir hoffen nun – da ein neuer Mann an der Spitze steht –, dass wir gemeinsam einen Weg finden, um all den Jahren, die wir auf diesen Prozess verschwendet haben, zumindest teilweise einen Sinn zu geben. Und um uns allen die Möglichkeit zu eröffnen, die Narben endlich verheilen zu lassen.«
»Ich kann das nur zu gut nachvollziehen«, sagte Farrell, »aber ich sehe nicht, dass ich den Lauf der kommenden Ereignisse nachhaltig beeinflussen kann.«
»Aber natürlich«, sagte Theresa. »Sie müssen den Prozess nicht wieder aufrollen. Das liegt im Ermessensbereich des Staatsanwalts.«
»Nun ja, aber … Ich hoffe, Sie können nachvollziehen, dass mir dieser Weg nicht offensteht. Allein schon die Familie des Opfers …«
Theresas Stimme war kaum vernehmbar, aber umso eindringlicher. »Aber sie war nicht sein Opfer, Wes. Das ist doch der springende Punkt. Er hat ihr kein Haar gekrümmt. Wenn es Ihnen gelänge, die Familie davon zu überzeugen …«
Cliff schnaubte und unterbrach sie: »Welche Familie? Man müsste sie zunächst irgendwo in Guatemala aufspüren, wo sie sich verstecken. Viel Glück , kann ich da nur sagen. Es gibt keine Familie, über die Sie sich den Kopf zerbrechen müssten. Aber es gibt meinen Sohn.«
Farrell räusperte sich. »Soweit ich informiert bin, basierte die Berufung aber nicht auf den Beweisen, die beim Prozess vorgelegt wurden.« Farrell spielte auf die zwei Frauen an, die ebenfalls ausgesagt hatten, von Ro vergewaltigt worden zu sein.
Farrell wusste, dass sich die erfolgreiche Berufung auf ein ganz anderes Detail kapriziert hatte: Mitglieder der Familie hatten im Gerichtssaal Buttons mit dem Porträt der lächelnden Dolores Sandoval getragen – und das, befand das Bundesberufungsgericht, sei eine unzulässige Beeinflussung der Jury gewesen. Es war die
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