Der Angriff
kleinen Display las, ließ ihn die Stirn runzeln. Stansfield überlegte, ob er abheben sollte oder nicht. Er ließ es noch zweimal klingeln und griff dann mit seiner knochigen Hand nach dem Hörer.
Der Krankenwagen bahnte sich einen Weg durch den vormittäglichen Verkehr. Der Sicherheitskordon rund um das Weiße Haus war nach Norden, Osten und Westen ausgedehnt worden. Im Süden hatte man die Constitution Avenue abgesperrt. Der ohnehin schon dichte Verkehr im Stadtzentrum hatte sich ins Unerträgliche gesteigert.
Der Fahrer des Krankenwagens kam auf der Pennsylvania Avenue nur sehr langsam voran. Im Außenspiegel sah er die große Kuppel des Kapitols, während vor ihm eine Flut von Fahrzeugen in das Geschäftsviertel und in die Straßen um das Weiße Haus strömte. Salim Rusan war überraschend ruhig – einerseits deshalb, weil er an Aziz’ Plan glaubte, andererseits aber auch, weil er lieber hier im dichten Verkehr festsaß als im Weißen Haus.
Der Krankenwagen war das letzte Fahrzeug, das noch bei Grün über die Kreuzung mit der Ninth Street kam. Zu seiner Rechten tauchte das Hoover Building auf, das berühmte Hauptquartier des FBI. Rusan lächelte nicht, das entsprach nicht seinem Naturell. Er hatte mehr Ähnlichkeit mit Bengazi als mit Aziz. Er war ein Krieger, und deshalb hatte ihn Aziz auch für diese wichtige Mission ausgewählt. Rusan würde je nachdem, wie sich die Situation entwickelte, verschiedene Aufgaben übernehmen. Dabei war sich Rusan ziemlich sicher, dass noch viel Blut fließen würde – nicht nur das seiner Kameraden, sondern auch das der Geiseln, das von amerikanischen FBI-Agenten und hoffentlich noch vielen anderen. Er hoffte nur, dass er in dem allgemeinen Durcheinander, das durch den Sturm der Amerikaner auf das Weiße Haus entstehen würde, in der Lage wäre, einigen seiner Freunde zur Flucht zu verhelfen. Rusan glaubte daran, dass er eine Chance hatte, zu überleben. Der Fluchtplan war gut ausgearbeitet und konnte tatsächlich funktionieren.
Trotzdem war es ziemlich nervenaufreibend, mitten ins Zentrum des Konflikts zurückzukehren – an den Ort, wo er vor drei Tagen vom Dach des Washington Hotels aus mehr als ein Dutzend Amerikaner getötet hatte. Gerade weil der Plan so kühn war, hatte er eine gewisse Erfolgsaussicht. Rusan wusste, dass er im Moment weltweit gesucht wurde. Sie suchten aber nach dem Mann, der er vorher war. Nie im Leben würden sie einen Zusammenhang zwischen Salim Rusan, dem dunkelhaarigen militanten Islamisten, und Steve Hernandez, dem schwulen Sanitäter aus Miami, erkennen. Nein, er würde einfach mit seinem Krankenwagen zum Weißen Haus fahren und der Polizei sagen, dass man ihn hierher geschickt hätte – für den Fall, dass man ihn brauchte. Aziz hatte ihm erklärt, dass so etwas in einer solchen Situation absolut üblich wäre. Er würde in einem von Dutzenden von Krankenwagen sitzen, die alle darauf warteten, Leute in die Krankenhäuser zu bringen, wenn es nötig war.
Rusan hatte Zeit. Die amerikanischen Mörder zeigten ihre Gesichter nicht, solange es hell war. Sie würden warten, bis es dunkel wurde, und wenn Aziz’ Vermutung richtig war, würden sie entweder heute Nacht oder morgen angreifen. Für Rusan kam es nur darauf an, dass er bis zu einem Zeitpunkt, der ein oder zwei Stunden nach Sonnenuntergang lag, alles vorbereitet hatte.
33
Tief in Gedanken versunken saß Anna Rielly da, die Beine angezogen und das Kinn auf die Knie gestützt. Wenn sie daran dachte, was ihr in letzter Zeit widerfahren war, dann kam ihr das alles irgendwie schicksalhaft vor. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn sie den Job im Weißen Haus nicht bekommen hätte? Oder wenn sie den Flug nach Washington verpasst hätte? Was wäre gewesen, wenn sie mit der ersten Gruppe von Geiseln freigekommen wäre oder wenn dieses Schwein sie nicht in das Schlafzimmer des Präsidenten geschleppt hätte? Wenn Mitch Kruse, oder wie auch immer sein richtiger Name lautete, nicht eingegriffen hätte? Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Die Vorstellung, dass Kruse nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre, war einfach erschreckend. Sie verdankte ihm ungeheuer viel. Mehr als sie jemals in Worte fassen konnte.
Anna starrte die Wand vor ihr an. Sie dachte daran, wie unendlich gering die Wahrscheinlichkeit war, dass er genau in diesem Moment zur Stelle sein konnte. Mochte man es nun Schicksal nennen oder einen Schutzengel – irgendetwas musste in ihr Leben
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