Der Angstmacher
sie, was sie an diesem Tag anziehen sollte. Am liebsten trug sie die graublauen Jeans, die aber schienen ihr für einen Tag wie heute nicht angemessen zu sein.
Sally suchte weiter und fand das weiße Kleid mit den schmalen Trägern. Von der Länge her reichte es ihr bis zu den Waden. Zudem war es eng geschnitten, so daß es ihre Figur nachzeichnete.
Das genau würde passen.
Sally schlüpfte hinein, strich noch einmal mit zehn Fingern durch das Haar und legte etwas Schminke auf. Nicht zuviel, ihre Mutter wollte das nicht, und Sally richtete sich danach. Nicht daß die Mutter ein Hausdrachen gewesen wäre, doch Sally hatte festgestellt, daß es besser war, Kompromisse zu schließen. Man muß schließlich miteinander auskommen und leben.
Zu dem Kleid mit der neutralen Farbe paßten die roten Schuhe. Sie waren schmal geschnitten und besaßen flache Absätze. So wirkte Sally, wenn sie die Schuhe trug, nicht so groß.
Sie war jetzt fertig.
Sally wußte, daß ihre Mutter es immer besonders spannend am Geburtstag der Tochter machte. Besonders dann, wenn dieser Tag auf ein Wochenende fiel.
Diesmal war es ein Samstag. Um das Geschenk in Empfang zu nehmen, war als Zeit 10 Uhr morgens festgelegt worden. Sally wußte, was sie bekommen sollte, war aber trotzdem sehr gespannt darauf, weil sie das Geschenk noch nicht gesehen hatte.
Sie schaute auf die Uhr.
Noch fünf Minuten mußte sie ausharren. Ihre Mutter würde keine Sekunde früher erscheinen.
Beide wohnten in einem alten Haus, das Sallys Vater von seinem Vater geerbt hatte. Leider war James Saler vor mehr als sieben Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen, so wohnten Mutter und Tochter allein. Sally hatte nie mit Ellen darüber gesprochen, sie wußte auch so, daß ihre Mutter kein einziges Mal mit dem Gedanken gespielt hatte, noch einmal in den Stand der Ehe zu treten.
Sie war nur für ihre Tochter und deren Ausbildung da gewesen, und sie hatte es geschafft, Sally vieles zu ermöglichen, vor allen Dingen eine Ausbildung, die genau ihren Neigungen entsprach. Dementsprechend würde auch das Geburtstagsgeschenk ausfallen.
Sally mußte über sich selbst lächeln, weil ihr auffiel, daß sie immer öfter zur Uhr schaute. Sie konnte es kaum erwarten, daß Mutter kam und sie rief.
Das war noch wie früher in den Tagen der Kindheit, an die sie geteilte Erinnerungen hatte, denn manchmal war es ziemlich knapp hergegangen mit dem Einkommen.
Sie trat an das Fenster und schaute durch die Scheibe. Unter ihr lag der kleine Garten, mehr ein bepflanzter Hinterhof, aber besser als gar nichts. Die Sonne schien und brachte eine frühlingshafte Milde mit. Es war ein Wetter zum Verlieben, doch Sally dachte anders darüber. Sie besaß noch keinen festen Freund, einige aus der Sportlerclique, mit denen sie hin und wieder ausging, reichten ihr. Ansonsten galt ihr Interesse nur der Musik. Dieses Fach studierte sie auch seit einigen Wochen mit einer wahren Leidenschaft.
Im Nachbargarten spielten Kinder. Die Eltern saßen aufgepolsterten Stühlen und ließen es sich gut ergehen. Samstägliche Familienidylle. Sally fand es herrlich.
Noch eine Minute.
Sie drehte sich um, denn sie hatte die Schritte der Mutter gehört. Ellen Saler klopfte stets an, wenn sie das Zimmer ihrer Tochter betrat. Das gehörte sich einfach, jedenfalls war sie der Meinung. Auch jetzt hörte Sally das Klopfen und öffnete hastig. Das lächelnde Gesicht ihrer Mutter schaute sie an. Ellen Saler war im Laufe der Jahre grau geworden. Sie trug die Haare halblang, die ein etwas blasses Gesicht umrahmten. Die blauen Augen und das runde Gesicht hatte sie von der Mutter geerbt. Nur zeigte die Haut der Zwanzigjährigen noch keine Falten.
Ellen Saler nickte ihr zu. Gratuliert hatte sie der Tochter schon nach dem Aufstehen. »Bist du bereit, Kind?« Sie sagte fast immer Kind zu ihrer Tochter.
»Ja, Mum.«
»Dann komm bitte.« Ellen sprach mit einer etwas gepreßt klingenden Stimme. Es verging kein Geburtstag der Tochter, wo sie nicht auch einige Tränen der Rührung vergoß.
Sie reichte Sally den Arm. Die Treppe war breit genug, damit die Frauen gemeinsam hinabsteigen konnten. Die Stufen bestanden aus Holz. An den Flurwänden hingen kleine Bilder, die zumeist Motive aus der Biedermeierzeit zeigten.
Obwohl das Haus nicht sehr geräumig war, hatte James Saler es so groß wie möglich gebaut. Einige Zwischenwände waren weggelassen worden, damit die Wohnfläche größer wurde. Dort spielte sich das Familienleben der beiden
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