Der Anruf kam nach Mitternacht
bleibt in der Nähe. Passt auf, was sich so tut.«
»Ja, Chef. Haben Sie etwas über die Kenmores vorliegen?«
»Saubere Briten, Witwe und zwei Söhne.«
»Wo seid ihr denn postiert?«
»Nicht schlecht. In einer Kneipe direkt auf der anderen Straßenseite.«
»Hat er euch schon entdeckt?«
»Ich fürchte, ja, Chef.«
Tarasoff lachte kurz und trocken, doch als Potter zu ihm hinüberblickte, sah er nur das altbekannte, regungslose Gesicht.
»Mist, er hat euch schon entdeckt? Was habt ihr gemacht? Seid ihr hingegangen und habt euch vorgestellt?«
»Nein, Chef. Er hat uns schon früh bemerkt, gleich nachdem wir von der Polizeistation weggefahren sind.«
»Also gut. Es ist jetzt ein Uhr dreißig. Ihr könnt euch in zwei Stunden abseilen.«
»Was halten Sie von dem Ganzen, Mr. Potter?«, fragte Tarasoff.
Potter zuckte die Schultern. »Hoffentlich ist es keine vergebene Liebesmüh.«
»Sollten wir diesen Nick O’Hara vielleicht in einem anderen Licht sehen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wäre es möglich, dass etwas ganz anderes dahintersteckt? Könnte er für einen anderen Geheimdienst arbeiten?«
Potter lachte. »O’Hara? Lassen Sie sich von mir etwas über ihn sagen: Er ist kein Agententyp. Viel zu ehrlich. Und trotzdem ist er schlau, auf eine intellektuelle Art. Bei ihm ist alles Theorie, keine Praxis. Er spricht etwa vier Sprachen. War gar kein schlechter Konsulatsbeamter. Aber er lebt einfach nicht in der Wirklichkeit.«
»Dennoch ist es eigenartig«, meinte Tarasoff. »Weshalb sollte er seine Finger in diese Affäre stecken? Er hat seine Karriere aufs Spiel gesetzt. Es ergibt alles keinen Sinn.«
»Tarasoff, waren Sie je verliebt?«
»Er ist verliebt? In Sarah Fontaine?«
»Warum nicht?«
Tarasoff schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, ich glaube, er ist Geheimagent.«
Potter lachte wieder und erhob sich schwerfällig.
»Man soll nie die Macht der Hormone unterschätzen! Das sagt meine Ge…« Er verstummte plötzlich, als die Tür geöffnet wurde.
Erstaunt wandte Tarasoff sich zu dem Mann im Türrahmen um. Es war Jonathan van Dam.
Potter räusperte sich. »Mr. van Dam! Ich wusste nicht, dass Sie sich zurzeit in London aufhalten. Gibt es neue Geschäfte?«
»Nein. Es dreht sich noch immer um das alte.« Van Dam setzte sich in Potters Sessel und legte seinen Aktenkoffer auf den Schreibtisch. »Mir ist eine kuriose Information zu Ohren gekommen, auf die ich mir wirklich keinen Reim machen kann. Vielleicht können Sie etwas Licht in die Sache bringen.«
»Hmm … eine Information?«, fragte Potter.
»Ja. Ich hatte Sarah Fontaines Telefon anzapfen lassen. Zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass sie vor einigen Tagen einen Anruf von ihrem Mann bekommen hatte. Ein höchst verwunderliches Ereignis, meinen Sie nicht auch? Oder haben sich die Fernleitungen derart verbessert?«
Potter und Tarasoff blickten sich an. »Mr. van Dam«, sagte Potter, »ich kann es Ihnen erklären …«
»Ja«, unterbrach van Dam ihn grimmig. »Ich glaube, das sollten Sie auch.«
Sarah und Nick standen auf den über Margate hoch aufragenden Klippen und ließen sich den Wind um das Gesicht wehen. Möwen stürzten vom hellblauen Himmel herunter, und ihre Schreie drangen wie wehklagende Stimmen durch die Luft. Die Sonne strahlte, und das Meer glitzerte wie zerbrochenes Glas.
Sie waren frühmorgens aus London abgefahren. Sarah hatte sich inzwischen den Pullover ausgezogen und den Schal abgenommen. Still stand sie in ihrer weißen Satinbluse und dem grauen Rock im Schein der Sonne und genoss die Wärme. Sie lebte!
In den letzten zwei Wochen hatte sie das nicht mehr richtig wahrgenommen. Sie hatte sich zusammen mit Geoffrey beerdigen lassen wollen … oder mit dem Mann, den sie für Geoffrey gehalten hatte. Erst jetzt, mit der unendlichen Weite des Meeres vor sich, schien Leben in sie zurückzukehren. Sie hatte Geoffreys Tod überlebt, nun würde sie auch seine Wiederauferstehung überleben.
»Sarah?« Nick berührte ihren Arm und nickte hinüber zu dem schmalen Pfad. Seine Haare waren vom Wind zerzaust, und sein Gesicht war von der Sonne gebräunt. Mit dem ausgeblichenen Hemd und den abgetragenen Hosen wirkte er eher wie ein Fischer als wie ein Beamter. »Wie weit ist es noch?«
»Nicht weit. Es liegt oben auf dem Hügel.«
Während sie den Pfad zur Whitstable Lane emporstiegen, sah Nick sich wiederholt um. Margate lag unten am Fuß der Klippen. Von einem Verfolger war nichts zu sehen. Sie waren allein.
»Ich
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