Der Anruf kam nach Mitternacht
sich, so deutlich, als hielte sie sich einen Spiegel vor das Gesicht und könne sich so unbeteiligt und kritisch sehen, wie ein Mann sie ansehen mochte: nicht hübsch, sondern scheu und linkisch.
»Es war eine Ehe voller Lügen«, sagte sie bitter. »Eigenartig, es kommt mir vor, als hätte ich die ganze Geschichte geträumt. Als sei ich überhaupt nie verheiratet gewesen …«
Er nickte. »So habe ich es manchmal auch empfunden.«
»Sie waren also auch verheiratet?«
»Nicht lange. Drei Jahre. Seit vier Jahren bin ich geschieden.«
»Das tut mir leid.«
Er suchte ihren Blick. »Sie meinen das wirklich so, nicht wahr?«
Sarah nickte. Bis zu diesem Moment hatte sie die Traurigkeit in seinen Augen noch nicht bemerkt. Jetzt entdeckte sie die gleiche Wehmut, die gleiche Pein, die auch sie empfand. Seine Ehe war gescheitert – Sarahs hatte nie existiert. Sie hatten beide ihre Wunden.
Ihre Wunden würden jedoch nicht heilen. Nicht, bis sie nicht auf ihre Fragen eine Antwort gefunden hatte. Nicht, bis sie nicht wusste, weshalb Geoffrey sie angerufen hatte.
»Wie immer Ihre Gefühle für Geoffrey auch sein mögen«, sagte Nick, »Ihnen ist doch sicherlich klar, dass es für Sie ein großes Risiko ist, hier in London zu bleiben. Sollte jemand hinter ihm her sein, sind Sie diejenige, die man beschatten wird. Offensichtlich ist man Ihnen gefolgt, wenigstens seit gestern. Sie haben die Gangster bereits zu Eve geführt.«
Sarah sah abrupt auf. »Zu Eve?«
»Ich fürchte, ja. Eve war eine professionelle Agentin, seit Jahren auf der Flucht. Sie wusste, wie man sich verbirgt, und sie konnte das sehr gut. Aber die Neugier – vielleicht auch die Eifersucht – hat sie unachtsam werden lassen. Wider besseres Wissen hat sie sich mit Ihnen getroffen. Es ist kein Zufall, dass sie ausgerechnet in der Nacht, in der Sie sich beide begegneten, umgebracht wurde.«
»Dann bin ich also an ihrem Tod schuld?«, flüsterte Sarah.
»Ja, in gewisser Hinsicht. Man muss Ihnen zum Lamb and Rose gefolgt sein. Direkt zu Eve.«
»Gütiger Himmel!« Sarah schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich habe die Frau fast gehasst, Nick. Als ich an sie und Geoffrey dachte, konnte ich nicht anders. Aber an ihrem Tod schuld sein … Das wollte ich nicht.«
»Sie war eine Agentin, Sarah. Sie haben sich nichts vorzuwerfen.«
Sarah fing zu zittern an. »Rache«, sagte sie leise in Erinnerung dessen, was Eve ihr erzählt hatte. »Deshalb hat man sie umgebracht.«
»Da bin ich nicht so sicher.«
»Was sollte sonst der Grund gewesen sein?«
»Wir sollten alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Rache ist nur eine davon. Aber nehmen wir einmal an, es hätte einen eher praktischen Grund gegeben …«
Plötzlich begriff Sarah. »Sie meinen, man wollte Eve zu einer Aussage zwingen? Man glaubte, sie wisse etwas?«
»Vielleicht hat man erkannt, dass Geoffreys Tod vorgetäuscht war. Vielleicht weiß man, dass er immer noch am Leben ist. Deshalb hat man Eve ein Messer an die Kehle gehalten und sie zum Reden bringen wollen. Die Frage ist nur, hat sie ihnen Informationen gegeben?«
Sarah musste an Eve denken. Am vergangenen Abend hatte Sarah trotz ihres eigenen Kummers gespürt, dass Eve Geoffrey ebenso sehr geliebt hatte wie Sarah, wenn nicht tiefer. Eve musste gewusst haben, wo sie ihn erreichen konnte. Welchen Qualen sie auch ausgesetzt worden war, sie hätte nichts gesagt. Sie hätte Geoffrey nie verraten. Sie war mit ihrem Geheimnis gestorben.
Würde sie, Sarah, ebenso tapfer sein können? Es gibt keinen Weg, dachte sie, den eigenen Mut zu beurteilen. Man merkt erst dann, ob man Courage besitzt, wenn man gezwungen wird, die größten Ängste durchzustehen.
Sarah hoffte, ihr Mut möge nie auf die Probe gestellt werden.
6. KAPITEL
In einem der Hinterzimmer von Roy Potters Abteilung kam eine Durchsage aus der Funkanlage. »O’Hara hat das Café vor vierzig Minuten mit Mrs. Fontaine verlassen. Die beiden sind ins Kenmore-Hotel gefahren. Die Vorhänge sind jetzt zugezogen. Es sieht aus, als hätten sie sich schlafen gelegt.«
»Und ich wette auf euch zwei Knallköpfe, dass sie nicht schlafen«, murmelte Potter seinem Assistenten Tarasoff zu. Der Agent lächelte kaum. Tarasoff hatte keinen Sinn für Humor, keinen Sinn für Witze. Der Stil seiner Kleidung war absolut korrekt: konservativer grauer Anzug, Krawatte mit langweiligem, blausilbernem Muster, schlichtes, weißes Hemd – alles makellos. Potter schaltete sein Funkgerät auf Sendung.
»Okay, Jungs,
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