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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sich einen Sessel heran, mein Sohn. Hören Sie auf, sich die Fotos anzusehen. Wenn Sie nicht wissen, dass Kennedy vierundsechzig wiedergewählt wurde, kennen Sie todsicher auch niemand aus meiner Familie.«
    Ach, Harry, dachte ich.
    3
    Als ich noch ein kleiner Junge war – vier, vielleicht erst drei Jahre alt –, erzählte mir ein beschwipster Onkel die Geschichte von Rotkäppchen. Nicht die Standardfassung aller Märchenbücher, sondern die nicht jugendfreie Version voller Schreie, Blut und dem dumpfen Schlag der Holzfälleraxt. Obwohl ich seine Erzählung noch heute lebhaft in Erinnerung habe, sind mir nur wenige Details im Gedächtnis geblieben: zum Beispiel die grinsend gefletschten, von Speichel glänzenden Reißzähne des Wolfs und die von Blut und Schleim triefende Großmutter, die aus dem aufgeschnittenen Wolfsbauch wiedergeboren wird. Damit will ich sagen: Falls jemand Eine kurze alternative Geschichte der Welt, wie Harry Dunning sie Jake Epping erzählte erwartet, kann er das vergessen. Nicht nur wegen meines Entsetzens darüber, wie schlimm alles schiefgegangen war. Ich hatte vor allem das Bedürfnis, zurückzugehen und die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
    Trotzdem haben sich einige Dinge stärker eingeprägt. Zum Beispiel die weltweite Suche nach George Amberson. Leider erfolglos – George blieb ebenso verschwunden wie Richter Crater –, aber in den achtundvierzig Jahren seit dem Attentatsversuch in Dallas war Amberson zu einer fast mythischen Gestalt geworden. Retter oder Mitverschwörer? Es gab sogar Symposien, auf denen diese Frage diskutiert wurde, und als ich Harry davon erzählen hörte, musste ich unweigerlich an all die Verschwörungstheorien denken, die sich um Lee Oswald in seiner erfolgreichen Version gerankt hatten. Wie wir wissen, liebe Schülerinnen und Schüler, sorgt die Vergangenheit für Harmonie.
    Kennedy hatte erwartet, 1964 mit einem Erdrutschsieg über Barry Goldwater zu triumphieren; stattdessen gewann er mit weniger als vierzig Wählerstimmen – ein Vorsprung, den nur die getreuesten Anhänger der Demokraten achtbar fanden. In seiner zweiten Amtszeit brachte er das rechte Lager und das militärische Establishment schon bald gegen sich auf, indem er erklärte, Nord vietnam sei weniger gefährlich für unsere Demokratie als die Rassendiskriminierung in unseren Schulen und Städten. Er zog die US -Truppen nicht völlig ab, aber sie hielten nur noch Saigon und einen Ring um die Stadt besetzt, der – welche Überraschung! – als Grüne Zone bezeichnet wurde. Statt mehr Soldaten nach Vietnam zu entsenden, setzte die zweite Regierung Kennedy auf höhere Geldspritzen. Der American Way halt.
    Zu den großen Bürgerrechtsreformen der Sechzigerjahre kam es nie. Kennedy war kein LBJ , und als Vizepräsident war Johnson einzigartig machtlos, ihm zu helfen. Republikaner und Dixiecrats führten eine hundertzehntägige Dauerdebatte; ein Abgeordneter starb sogar im Plenum und wurde zu einem Helden der Rechten. Als Kennedy endlich aufgab, machte er eine flapsige Bemerkung, die ihn bis zu seinem Tod im Jahr 1983 verfolgen würde: »Das weiße Amerika hat sein Haus mit Zunder gefüllt; nun wird es brennen.«
    Als Nächstes kamen die Rassenunruhen. Während Kennedy durch sie abgelenkt war, eroberte die nordvietnamesische Armee Saigon – und der Mann, der mich in diese Sache hineingeritten hatte, blieb nach einem Hubschrauberabsturz auf das Deck eines amerikanischen Flugzeugträgers querschnittsgelähmt. Die öffentliche Meinung Amerikas wendete sich massiv gegen Kennedy.
    Einen Monat nach dem Fall Saigons wurde Martin Luther King in Chicago ermordet. Der Attentäter erwies sich als ein skrupelloser FBI -Agent namens Dwight Holly. Bevor er Selbstmord verübte, behauptete er, den Anschlag auf Befehl Hoovers verübt zu haben. Chicago ging ebenso in Flammen auf wie ein Dutzend wei terer amerikanischer Großstädte.
    George Wallace wurde zum Präsidenten gewählt. Unterdessen hatten die Erdbeben angefangen, Ernst zu machen. Gegen die war Wallace machtlos, deshalb begnügte er sich damit, Chicago mit militärischen Mitteln zu unterwerfen. Das sei im Juni 1969 gewesen, sagte Harry. Im Jahr darauf stellte President Wallace Ho Chi Minh ein Ultimatum: Er solle Saigon zu einer freien Stadt wie Berlin machen, sonst würde Hanoi in eine tote wie Hiroshima verwandelt. Onkel Ho weigerte sich. Wenn er glaubte, dass Wal lace nur bluffte, hatte er sich getäuscht. Am 9. August 1969, genau vierundzwanzig Jahre

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