Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
dieser gesunden Lumpenproletarier! Sie seien eingegliedert ins bewußte Leben!
Heute aber, nachdem mehr als vierzig Jahre verstrichen sind, wär’s angebracht, sich umzublicken und Zweifel anzumelden. Denn: Wer hat wen umerzogen? Die Tschekisten die Unterweltler? Oder die Unterweltler die Tschekisten? Ein Unterweltler, der zum tschekistischen Glauben übertrat, war bereits ein Suka, ein fauler Junge, dem wurde von den ehemaligen Kumpanen der Garaus gemacht. Ein Tschekist aber, der sich die Psychologie eines Unterweltlers zu eigen machte, ward ein zielstrebiger Untersuchungsrichter der dreißiger und vierziger Jahre oder ein tatkräftiger Lagerkommandant, hochgeehrt und rasch befördert.
Und die Psychologie eines Unterweltlers, die ist sehr einfach, die läßt sich leicht lernen:
1. Ich will leben und genießen, auf die übrigen hab ich geschissen!
2. Der Stärkere ist immer im Recht.
3. Läßt man dich in Ruh, halt die Klappe zu! (Will heißen: verhalte dich still, solange ein anderer geprügelt wird; warte, bis die Reihe an dir ist.)
Die gefügigen Feinde einzeln niederknüppeln! Dies Gesetz klingt uns vertraut. So hat es Hitler gehalten. So hat es Stalin gemacht.
Genug gelogen, ihr käuflichen Schreiberlinge! Ihr, die ihr die Kriminellen von der Reling des Vergnügungsdampfers, vom Schreibtisch des Untersuchungsrichters aus beobachtet habt! Ihr, die ihr schutzlos niemals einem Kriminellen begegnet seid!
Ein Urka ist kein Robin Hood! Wenn es nötig ist, einen Verkümmerer zu bestehlen, bestiehlt er einen Verkümmerer, wenn es darauf ankommt, einem Erfrierenden die letzten Fußlappen abzuknöpfen, verachtet er auch diese Beute nicht. Die große Losung der Unterwelt lautet: «Stirb du heute, ich aber morgen!»
Hier die gesetzlichen Vorschriften, dreißig Jahre hindurch in Kraft (bis 1947): Hat einer im Amt gestohlen, in die Staatskassa gegriffen? eine Kiste aus dem Magazin stibitzt? drei Kartoffeln vom Kolchosfeld eingesteckt? Er bekomme zehn Jahre. (Und nach 1947 volle zwanzig!) Und du? Hast einen zivilen Diebstahl an freien Menschen begangen? eine Wohnung ausgeräumt, alles fortgeschafft, was sich die Familie ein Leben lang zusammengespart hat? Wenn’s ohne Mord abging, setzt es dafür höchstens ein Jahr, mitunter – sechs Monate …
Die Nachsicht ist’s, durch die Diebe gezüchtet werden.
Mit ihren Gesetzen hat die Stalinsche Macht den Unterweltlern einen deutlichen Wink gegeben: Bestehlt mich nicht! Bestehlt Privatpersonen! Denn es ist das Privateigentum – ein Überbleibsel der Vergangenheit. (Und das persönliche Eigentum – eine Hoffnung der Zukunft …)
Und die Unterweltler, sie haben’s verstanden. So furchtlos in ihren Erzählungen und Liedern – was taten sie? Haben sie sich dort ihre Beute geholt, wo’s schwer und gefährlich war, wo’s um Kopf und Kragen ging? Nein. Feige und habgierig machten sie sich auf, wie ihnen geheißen: einsame Passanten auszuplündern, unbewachte Wohnungen auszurauben.
Viele ausgeplünderte Bürger wüßten darüber zu berichten, daß die Miliz die Verbrecher nicht mal zu finden versuchte, nicht mal die Anzeige annahm, weil es nicht lohnte, sich damit die Erfolgsstatistik zu verderben. Wozu sich auch abhetzen, wenn der Ergriffene dann doch nur sechs Monate bekommt, mit Tilgung der Hälfte bei guter Führung? Und ob die eingefangenen Banditen überhaupt vor ein Gericht gestellt würden?
Schließlich wird ganz gewiß eine Haftzeitverkürzung erlassen werden und natürlich den Kriminellen zugute kommen. Drum hüte sich, wer vor Gericht gegen sie ausgesagt hat: Die Urkas kehren alle bald zurück, und für den Zeugen heißt es dann, mit ihrem Messer Bekanntschaft machen!
Wenn du also siehst, wie jemand in ein Fenster einsteigt, eine Tasche aufschlitzt, deinem Nachbarn den Koffer aufbricht – kneif die Augen zu! Geh vorüber! Du hast gar nichts gesehen!
So haben uns die Diebe erzogen – und die Gesetze!
Doch auch dies ist noch nicht alles! Ein weiterer wichtiger Wesenszug unseres gesellschaftlichen Lebens ist dem Gedeihen der Unterwelt förderlich: die Angst vor der Publizität. Unsere Zeitungen sind mit Nachrichten über allerlei Produktionssiege vollgestopft, kein Mensch interessiert sich dafür, aber Gerichtssaalberichte und Informationen über Verbrechen sucht man darin vergeblich. (Denn es lehrt uns die Fortschrittliche Theorie, daß nur die Klassengesellschaft Kriminalität gebiert; da wir aber keine Klassen mehr besitzen, kann es auch keine
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