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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Überalterung litt.
    Wie jung er indes zu werden hatte, entschied das Jahr 1935. Da hat in jenem Jahr der Große Bösewicht wieder einmal seinen Finger in den weichen Lehm der Geschichte gesteckt und seinen Abdruck darin hinterlassen. Vollauf mit seinen großen Unterfangen beschäftigt: der Verwüstung Leningrads und der Verwüstung der eigenen Partei, fand er dennoch Zeit genug, sich an die Kinder zu erinnern, jene Kinder, die er so fest ins Herz geschlossen, daß er sich immerzu – ihr bester Freund! – mit ihnen fotografieren ließ. Und da er keinen anderen Ausweg sah, um diese stets zu bösen Streichen aufgelegten Lausejungen, diese immer ungestümer wuchernde, immer unbändiger sich vermehrende, immer unverschämter die sozialistische Gesetzlichkeit verletzende Proletenbrut in den Griff zu bekommen, befand er es für das Beste, diesen Kindern vom zwölften Lebensjahr an (schon war auch die geliebte Tochter den ersten Kinderschuhen entwachsen, es mangelte ihm also nicht an Gelegenheit, gerade diese Altersstufe zu beobachten) das volle Strafmaß des Gesetzes zuteil werden zu lassen! Also: «Unter Anwendung aller Strafmaßnahmen» – erläuterte der ZIK-und SNK-Ukas vom 7. April 1935. (Somit: bis hin zur Erschießung.)
    Wir Ungebildeten pflegten dazumal einen Ukas nicht zu studieren. Wir beguckten uns lieber die Stalinporträts: Vater mit schwarzhaariger Tochter auf dem Arm … Und den zwölfjährigen Gören fiel’s schon gar nicht ein, solch ein Ding zu lesen. Unterdessen aber zogen Ukasse über Ukasse ins Land. Am 10. Dezember 1940: Auch das «Anbringen von verschiedenen Gegenständen an Eisenbahngleisen» sei schon bei Zwölfjährigen gerichtlich zu ahnden. (Na, halt als Training junger Saboteure.) Am 31. Mai 1941: Für alle übrigen im § 12 nicht genannten Verbrechen sei das Mindestalter auf vierzehn Jahre festgesetzt!
    Da kam ein kleines Hindernis dazwischen: Es begann der Vaterländische Krieg. Allein: Gesetz bleibt Gesetz! Also wurde am 7. Juli 1941, vier Tage nach der panischen Rundfunkansprache Stalins, in den Tagen, da die deutschen Panzer schon gegen Leningrad, Smolensk und Kiew rollten, wieder ein Ukas des obersten Sowjet zum besten gegeben. Nicht ohne weiteres läßt sich sagen, woher unser heutiges Interesse an ihm rührt: ob es eher der unerschütterliche akademische Ton war, mit dem die Macht uns zeigen wollte, welch wichtige Fragen sie in jenen flammenden Tagen zu entscheiden bereit war, oder sein Inhalt selbst. Die Sache war die, daß der Staatsanwalt der UdSSR (Wyschinski?) beim Obersten Sowjet eine Klage gegen das oberste Gericht einbrachte (folglich hat auch der Gnadenreiche Einblick in die Sache genommen), die die falsche Handhabung des Ukas von 1935 zum Gegenstand hatte: Es kämen die Kinder nur dann vor Gericht, wenn ihre Tat als vorsätzlich qualifiziert werde. Eine unzulässige Schlappheit, was denn sonst?! Und es gibt das Präsidium – mitten im Krieg – kund und zu wissen: Solcherart Auslegung entspreche nicht dem Text des Gesetzes, eine vom Gesetz nicht vorgesehene Einengung sei dadurch statuiert worden! … Und es wird das Oberste Gericht mit Zustimmung des Staatsanwalts angewiesen, bei Kindern auch dann das volle Strafmaß zur Anwendung zu bringen, wenn das Verbrechen nicht vorsätzlich, sondern aus Unachtsamkeit begangen wurde!
    Nun stimmt’s! Vielleicht ist in der ganzen Menschheitsgeschichte noch niemand einer so radikalen Lösung der Kinderfrage nahegekommen! Von zwölf Jahren an – auch, wenn’s aus Unachtsamkeit geschah – und bis hin zur Erschießung! Nun erst waren alle Mauselöcher zugestopft! Nun erst waren die Kolchosähren vor den gierigen Tierchen gerettet! Nun konnten sich unsere Kornkammern füllen, nun konnte unser Leben gedeihen – und die von Geburt an lasterhaften Kinder den weiten Weg der Besserung antreten. Und es hat von den Genossen Staatsanwälten keiner gezögert, einerlei, ob sie zu Hause ebensolche Kinder hatten. Sie stellten willigst Haftbefehle aus. Und es hat von den Genossen Richtern keiner gezögert, ungetrübten Herzens verurteilten sie Kinder zu drei, fünf, zu acht und zehn Jahren Haft, in allgemeinen Lagern zu verbüßen!
    Und es bekamen diese Knirpse für das Ährenschneiden nicht weniger als acht Jahre! Und für einen Sack voll Kartoffeln – einen Hosensack voll, in schmalen Bubenhosen! – ebenfalls acht.
    Die Gurken standen niedriger im Wert. Für ein Dutzend Gurken aus dem Kolchosgarten bekam Sascha Blochin fünf Jahre.
    Und das

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