Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Verbrechen bei uns geben, also hat die Presse darüber zu schweigen! Das fehlte noch, daß wir den amerikanischen Zeitungen Material lieferten, aus dem sie folgern könnten, daß wir in punkto Kriminalität ihnen nicht nachstehen!) Wenn im Westen ein Mord geschieht, prangt das Foto des Mörders auf öffentlichen Anschlägen, die Zeitungen bringen es in großer Aufmachung, in Bars und Straßenbahnen stößt der Verbrecher auf sein Bild und muß sich bald als gehetzte Ratte fühlen. Bei uns braucht ein unverfrorener Mörder dies alles nicht zu fürchten, die Presse schweigt, das Fernsehen bringt keine Bilder, er setzt sich in den Zug und fährt in ein andres Gebiet, hundert Kilometer, nicht weiter, dort läßt er sich unbehelligt nieder. Den Innenminister wird wegen des unaufgeklärten Verbrechens im Parlament niemand zur Rede stellen, denn es wissen ja überhaupt nur die Einwohner jenes einen Städtchens was davon.
Mit der Kriminalität verhält es sich wie mit der Malaria: Da hat man einst hinausposaunt, daß sie ausgemerzt worden sei, und schon ist’s verboten, sie zu behandeln, ja, auch die Diagnose zu stellen, ist nicht mehr erlaubt!
Und immer gibt es für alles eine seligmachende hohe Theorie. Mitnichten sind die leichtfertigen Literaten von selber drauf verfallen, die Kriminellen als unsere Bundesgenossen beim Aufbau des Kommunismus zu preisen. Dafür standen die Lehrbücher der sowjetischen Besserungsarbeitspolitik ein (die gab es, broschiert und gebunden), auch Dissertationen und wissenschaftliche Aufsätze zur Lagerkunde, am sachlichsten aber fand sich dies in den Instruktionen dargelegt, die den Lagernotabeln als Lehrmittel dienten. All das ergibt sich aus der Einzig Richtigen Lehre, die das ganze schillernde Leben des Menschengeschlechts mit dem Klassenkampf und nur mit ihm allein erklärt.
Die Begründung, hier ist sie. Professionelle Verbrecher können in keiner Weise den kapitalistischen Elementen gleichgesetzt werden, die da sind: Ingenieure, Studenten, studierte Landwirte und Nonnen, denn deren Einstellung zur Diktatur des Proletariats ist stabil feindselig, während die ersteren nur (!) eine gewisse politische Labilität an den Tag legen. ( Nur politisch labil ist ein professioneller Mörder!) Der Lumpenproletarier gehört nicht zur besitzenden Klasse und wird sich darum nicht mit den klassenfeindlichen Elementen verbünden, vielmehr dem Proletariat sich anzuschließen trachten (da könnt ihr lang drauf warten!). Darum wurden sie denn auch in der offiziellen GULAG-Terminologie als sozialnahe Elemente bezeichnet. (Sag mir, wer dein Freund ist …) Darum kauten es die Instruktionsschreiber den Lagermeistern immer wieder vor: Den Gewohnheitsverbrechern ist Vertrauen zu erweisen ! Darum wurden die Lagererzieher angewiesen, den Unterweltlern nachdrücklich die Gemeinsamkeit ihrer Klasseninteressen und jener des übrigen werktätigen Volkes zu erklären, ihnen eine «verächtlichfeindselige Haltung gegenüber den Kulaken und Konterrevolutionären» anzuerziehen. Und schließlich – «diese Stimmungen auszunutzen »!
Sobald aber diese schön gedrechselte Theorie auf den Boden der Lagerwirklichkeit herabsank, ergab sich folgendes: Die abgefeimtesten Verbrecher gewannen eine gänzlich unkontrollierte Macht über die Inseln des Archipels, sie herrschten über die Bevölkerung ihres Reiches, über die Bauern, Mittelständler und Intellektuellen, sie verfügten über eine Machtvollkommenheit, wie sie sie niemals und in keinem Lande je besessen und in der freien Welt draußen niemals sich erträumt haben konnten – hier auf dem Archipel waren ihnen alle übrigen Menschen als Sklaven ausgeliefert. Welche Verbrechertype würde auf solch eine Macht verzichten? Die Spitzenganoven, die obersten Urkas, übten Befehlsgewalt über ganze Außenstellen aus, sie wohnten mit ihren jeweiligen «Gattinnen» in eigenen «Kabinen» oder Zelten. (Sie nahmen die Ehebande indes nicht allzu ernst, vernaschten der Reihe nach die knusprigen Frauenzimmer aus den Reihen ihrer Untertanen und holten sich zur Aufbesserung der Speisekarte mal auch intellektuelle Achtundfünfzigerinnen und junge Studentinnen ins Bett. Im Noril-Lag war Tschawdarow Zeuge des Gesprächs zwischen einer Urka-Frau und ihrem Urka-Mann. «Magst heute ein sechzehnjähriges Ding vom Land?» liebedienerte sie. Die Angebotene war ein Kolchosmädchen, das wegen eines Kilogramms Getreide für zehn Jahre in den Norden geschickt worden war. Das Mädchen sträubte
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