Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
sich noch, aber der Ganovin war sie nicht gewachsen. «Ich stech dich ab!» schrie diese. «Willst gar was Besseres sein? Ich laß mich ja auch von ihm rammeln!»)
Man wird mir entgegenhalten, daß nur die Sukas sich gängeln lassen, während die «ehrlichen Ganoven» dem Gesetz der Unterwelt die Treue halten. Ich aber, der ich von beiden Sorten genug zu sehen bekam, könnte nicht sagen, daß das eine Gesindel nobler als das andre gewesen wäre. Von Ganoven wurden den Esten mit Schürhaken die Goldzähne ausgebrochen. Von Ganoven wurden Litauer im Kras-Lag 1941 in die Abortgrube geworfen, sooft sie sich weigerten, ihre Pakete «abzuliefern». Von Ganoven wurden Todeskandidaten ausgeraubt. Dem erstbesten Zellenkameraden machen die Ganoven mir nichts dir nichts den Garaus, bloß, um ein neues Gerichtsverfahren zu provozieren, dadurch den Winter im warmen Nest zu überdauern oder aus einem schlimmen Lager weggeschafft zu werden. Einem Mithäftling draußen in der Kälte die Kleider und die Schuhe abzuknöpfen, erscheint dann nachgerade als eine Lappalie. Und die gestohlenen Brotrationen, die sind schon gar nicht mehr der Rede wert.
Onein: Steiniger Boden bringt dir kein Brot, Diebsgesindel stürzt dich in Not.
Die Theoretiker des GULAG empörten sich darüber, daß die Kulaken im Lager die Diebe nicht einmal als richtige Menschen ansahen (damit ihr vertiertes Wesen offenbarend).
Wie solltest du sie aber für Menschen gelten lassen, wenn sie dir das Herz aus dem Leibe pressen und aussaugen? Ihre ganze «romantische Freiheitsliebe» erschöpft sich in Freibeuterei; Blutsauger sind sie, nichts anderes.
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Die Frischlinge
Viele Fratzen hat der Archipel, viele Zähne, sie zu fletschen. Von welcher Seite man auch rangefahren kommt – Entzücken kann er niemals erwecken. Doch am greulichsten wird wohl der Anblick jenes Rachens sein, den er aufsperrt, um die Minderjährigen zu verschlucken.
Es sind diese GULAG-Frischlinge mitnichten die Besprisorniki in den grauen Lumpen, nicht die klauenden, streunenden, rund um die Asphaltkessel lungernden verwahrlosten Kinder, die das Stadtbild der zwanziger Jahre mitprägten. Die Besprisorniki kamen in Kolonien für minderjährige Verbrecher (bereits 1920 unterstand eine solche dem Unterrichtskommissariat; nicht uninteressant wäre es zu erfahren, wie es vor der Revolution um die minderjährigen Verbrecher bestellt war), des weiteren in Arbeitshäuser für Minderjährige (sie bestanden von 1921 bis 1930, hatten vergitterte Fenster, Schlösser an den Türen und Schließer zum Aufpassen, könnten demnach in der verstaubten bürgerlichen Terminologie durchaus Gefängnisse genannt werden) und obendrein seit 1924 in «Arbeitskommunen der OGPU»; da wurden also die Besprisorniki reingesteckt, aber immerhin von der Straße weggeholt, nicht von den Familien fortgerissen. Der Bürgerkrieg hat sie zu Waisen gemacht, der Hunger, die Verwilderung; die Eltern waren erschossen worden, an den Fronten zugrunde gegangen, und die Justiz unternahm damals echte Versuche, diese Kinder in die Gemeinschaft zurückzuführen, sie vor der Straße, der Schule des Verbrechertums, zu retten.
Woher aber kamen die jugendlichen Verbrecher? Durch den § 12 des Strafgesetzes von 1926 wurden sie in die Welt gesetzt: Er war es, der Kinder von ZWÖLF Jahren an wegen Diebstahls, Vergewaltigung, Körperverletzung und Mord vor Gericht zu stellen erlaubte (auch der § 58 spielte mit hinein), allerdings vorschrieb, daß sie milde bestraft werden sollten, nicht wie Erwachsene das «volle Maß» ausgeschenkt bekämen. Damit hat sich für die künftigen Frischlinge das erste Schlupfloch in den Archipel aufgetan, jedoch noch nicht das Tor.
Die folgende interessante Zahl sei noch hinzugefügt: Im Jahre 1927 standen 48 Prozent aller Häftlinge im Alter zwischen 16 (die noch jüngeren wurden gar nicht mitgezählt) und 24 Jahren, woraus geschlossen werden muß, daß sich fast die Hälfte des gesamten Archipels im Jahr 1927 aus jener Generation rekrutierte, die zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution sechs bis vierzehn Jahre alt war. Zehn Jahre nach der siegreichen Revolution fanden sich diese Jungen und Mädchen im Gefängnis wieder und machten obendrein die Hälfte seiner Bevölkerung aus! Mit dem Kampf gegen die Überbleibsel des bürgerlichen Bewußtseins, des Erbes der alten Gesellschaft, läßt es sich schwer in Einklang bringen, aber gegen Zahlen kommt man bekanntlich nicht auf. Die Zahlen zeigen, daß der Archipel niemals an
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