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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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weitere Kette war die drohende neue Frist. Die Politischen bekamen für den Ausbruchsversuch nach dem gleichen § 58 einen neuen Zehner verpaßt (allmählich hatten die Richter die beste Verbrämung gefunden: 58,14, konterrevolutionäre Sabotage).
    Dann war da noch das Privileg des Unbewachtseins, das einen Sek mehr als der Stacheldraht ans Lager band. Diejenigen, die am wenigsten bewacht wurden, die diese winzige Vergünstigung genossen, zur Arbeit und von der Arbeit ohne Bajonett im Rücken marschieren und auch mal einen Abstecher in die freie Siedlung machen zu dürfen, wußten den Vorteil mächtig zu schätzen. Ein Fluchtversuch hätte ihn zunichte gemacht.
    Auch die Geographie des Archipels setzte dem Freiheitsdrang eiserne Schranken; über unübersehbare Schnee-oder Sandwüsten hätte der Weg geführt, durch undurchdringliche Wälder.
    Die von der Obrigkeit genährte Feindseligkeit der rundum siedelnden Bevölkerung wurde zum entscheidenden Fluchthindernis. Die Behörden knauserten nicht mit Prämien für aufgegriffene Seki (und förderten hiermit auch noch die politische Erziehung). Schließlich gewöhnten sich die rings um den Archipel lebenden Völkerschaften daran, daß die Einbringung eines Ausbrechers ein Festtag war, ein Broterwerb, so was wie eine gute Jagdbeute oder ein gefundener kleiner Edelstein.
    Ein verzweifeltes Herz wägt indes nicht immer ab. Da sieht einer einen Baumstamm im Fluß treiben – und springt! und schwimmt! Wjatscheslaw Besrodnyj, ein Sek vom Oltschan-Lagerpunkt, gestern noch im Krankenrevier, noch lange nicht genesen, ruderte auf zwei zuzusammengebundenen Stämmen den Fluß Indigirka hinab – und landete im Nördlichen Eismeer! Wohin wollte er? Worauf hoffte er? Auf offener See haben sie ihn aufgeklaubt – von Fangen war schon keine Rede mehr – und auf dem Schlittenweg nach Oltschan, ins selbe Krankenhaus zurückgebracht.
    Aber auch wenn einer nicht von selbst ins Lager zurückgekommen ist, nicht halbtot oder tot zurückgebracht wurde, heißt das noch lange nicht, daß ihm die Flucht gelang. Mag sein, daß er lediglich den sklavischen und schleppenden Tod im Lager gegen den freien Tod des Wildes draußen in der Taiga eingetauscht hat.
    Einen glücklicheren Verlauf nehmen für gewöhnlich die stillen Ausbrüche. Doch so wundersam ihr Gelingen oft auch sein mag, wir werden selten etwas davon zu hören bekommen: Die glücklich Entflohenen geben keine Interviews, sie haben den Namen gewechselt und halten sich im Verborgenen. Kusikow-Skatschinski, dem 1942 die Flucht gelang, läßt sich heute nur darum zu einem Bericht herbei, weil er 1959 – nach 17 Jahren – aufgespürt worden war!
    Auch von Sinaida Powaljajewas geglückter Flucht erfuhren wir nur, weil sie am Ende doch in die Falle ging. Die Frist hatte sie dafür bekommen, daß sie unter den Deutschen als Lehrerin in ihrer früheren Schule geblieben war. Verhaftet wurde sie allerdings nicht gleich nach der Rückkehr der sowjetischen Truppen, sie hatte zuvor noch Zeit, einen Piloten zu heiraten. Dann erst kamen die Verhafter, Sinaida landete im 8. Kohlenbergwerk von Workuta. Mit Hilfe von Chinesen, die in der Küche arbeiteten, gelang es ihr, Kontakt mit der Außenwelt und mit ihrem Mann aufzunehmen. Der Flieger-Ehemann aber diente in der Zivilluftfahrt und arrangierte für sich einen Flug nach Workuta. Am verabredeten Tag schlüpfte Sinaida in die Banja der Arbeitszone, ließ dort ihre Lagerkluft zurück, frisierte die über Nacht eingedrehten Haare zurecht und ging zu ihrem Mann hinaus, der im Gelände wartete. An der Flußfähre machten Wachen Dienst, doch keiner beachtete das frischgelockte Mädchen, das da Arm in Arm mit einem Flieger herbeispazierte. Mit seiner Maschine flogen sie dann auch fort. Sinaida lebte ein Jahr lang mit falschen Papieren, doch die Sehnsucht nach der Mutter war schließlich zu stark, sie fuhr hin und wurde, weil die Mutter unter Beobachtung stand, geschnappt. Es gelang ihr, dem Untersuchungsrichter glaubhaft vorzulügen, daß sie in einem Kohlenwagen geflohen war, und den Ehemann damit aus der Sache herauszuhalten.

    Die Fluchtversuche ganzer Häftlingsgruppen haben wir in diesem Kapitel ausgeklammert, obgleich auch sie sehr zahlreich waren. Es heißt, daß 1956 ein ganzes Lager, ein kleines zwar, bei Montschegorsk abhaute.
    Wenn wir alle Häftlingsausbrüche er-und aufzählen wollten, bekämen wir eine Liste, die nicht so schnell durchzulesen, nicht so leicht durchzublättern wäre. Wer es

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