Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
auch nicht. Unterschreiben Sie!» – «Ich möchte es aber sehen!» – «Darauf haben Sie kein Recht, es ist nicht für Sie geschrieben, sondern für uns. Sie brauchen es nicht, ich erklär’s Ihnen auch so: Diese Paragraphen besagen genau das, wessen Sie beschuldigt werden. Außerdem haben Sie nicht zu unterschreiben, daß Sie einverstanden sind, sondern nur, daß Ihnen die Anklage vorgelegt wurde.»
Auf einem der Zettel taucht ein neues Buchstabengebilde auf: StPO. Es macht Sie stutzig: Wodurch unterscheidet sich die StPO vom StGB? Wenn der Untersuchungsrichter gerade in guter Stimmung ist, wird er’s Ihnen aufschlüsseln: Straf-Prozeß-Ordnung. Wie? Nicht nur ein Kodex, sondern deren gleich zwei wurden Ihnen vorenthalten, als die drangingen, Ihnen nach ihren Gesetzen den Prozeß zu machen?!
… Seither sind zehn, dann fünfzehn Jahre vergangen. Über dem Grab meiner Jugend ist dichtes Gras gewachsen. Abgesessen war die Haftfrist und sogar die fristlose Verbannung. Doch nirgends – nicht in den «Kulturabteilungen» der Lager, nicht in den Bezirksbibliotheken, nicht einmal in den mittelgroßen Städten, habe ich je das Sowjetische Gesetzbuch mit den Augen zu sehen, in den Händen zu halten, mit Geld zu kaufen bekommen, ja, selbst danach zu fragen gab’s keine Instanz. Und Hunderten meiner Mithäftlinge erging es nicht anders: In den vielen Jahren der Voruntersuchung, der ersten, zweiten und x-ten Gerichtsverhandlung, der Lagerzeit und der Verbannung haben sie ein gedrucktes Gesetz kein einziges Mal zu Gesicht bekommen!
Und erst als die beiden Gesetzbücher die letzten Tage ihrer fünfunddreißigjährigen Existenz hinter sich zu bringen im Begriffe waren und durch neue ersetzt werden sollten, dann erst sah ich sie, die broschierten Zwillinge, das StGB und die StPO, auf einem Ladentisch in der Moskauer Metro liegen (Ausverkauf der künftigen Makulatur).
So konnte ich denn staunend darin lesen. Da heißt es in der StPO:
§ 136: Es ist unzulässig, Aussage oder Geständnis durch Druck oder Drohung vom Untersuchungshäftling zu erpressen. (Wie weitblickend und einsichtig!)
§ 111: Den Häftling entlastende oder seine Schuld mildernde Umstände dürfen bei der Untersuchung nicht außer acht gelassen werden.
(«Aber ich habe im Oktober für die Sowjetmacht gekämpft!» – «Ich habe Koltschak erschossen!» – «Ich habe die Kulaken gesäubert!» – «Ich habe dem Staat zehn Millionen Rubel einsparen geholfen!» – «Ich war im letzten Krieg zweimal verwundet!» – «Ich habe drei Orden verliehen bekommen!» – Das wird Ihnen nicht zur Last gelegt! grinst die Geschichte und fletscht des Untersuchungsrichters Zähne. – Was Sie Gutes getan haben, gehört nicht zur Sache.)
§ 139: Dem Beschuldigten steht das Recht zu, seine Aussage eigenhändig zu verfassen, bzw. in das vom Untersuchungsrichter erstellte Protokoll Korrekturen einfügen zu lassen.
(Wie schön, wenn wir das beizeiten gewußt hätten! Besser: Wenn’s auch so stimmte! Doch wie um eine Gnade und immer vergeblich baten wir den Untersuchungsrichter, nicht zu schreiben: «… meine widerlichen, verleumderischen Hirngespinste», sondern «meine irrigen Äußerungen», «unser illegales Waffenlager», statt «mein verrosteter Finnendolch».)
Oh, hätte man doch die Untersuchungshäftlinge zuerst in der Gefängniskunde unterwiesen! Hätte man doch für den Anfang eine Vernehmung quasi als Probe für die echte durchmachen dürfen … Hat man sich nicht bei den Wiederholern des Jahres 1948 den ganzen unnützen Firlefanz der Untersuchung geschenkt? Aber den Erstlingen, denen fehlt’s an Erfahrung und Wissen! Und niemand ist da, ihnen Rat zu geben.
Die Einsamkeit des Untersuchungshäftlings! – Auch das eine Bedingung für den Erfolg der unrechten Rechtsermittlung. Der ganze Apparat wird eingesetzt, den einsamen, bedrängten Willen zu zermalmen. Vom Augenblick der Verhaftung und bis über die erste Schockperiode hinweg sollte der Häftling im Idealfall allein sein: In der Zelle, im Gang, auf der Treppe, beim Verhör ist Sorge dafür zu tragen, daß er keinem Artgenossen begegnet und aus niemandes Lächeln und niemandes Blick Zuversicht schöpft oder pures Mitgefühl erkennt. Die Organe setzen alles daran, daß ihm die Zukunft düster, die Gegenwart ungewiß erscheint. Dazu gehört: ihn im Glauben wiegen, daß seine Freunde und Verwandten längst verhaftet, die Beweisstücke längst gefunden sind. Die Macht über ihn und die Seinen übertreiben,
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