Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
das Recht, ihn zu begnadigen, hervorheben (welches die Organe niemals besaßen). Ihm die Milderung des Urteils und des Lagerregimes in Aussicht stellen – wenn er aufrichtig «bereut» (das eine hatte mit dem andern nie etwas zu tun). In der kurzen Zeitspanne, da der Gefangene erschüttert, erschöpft und unzurechnungsfähig ist, ein Höchstmaß an irreparablen Aussagen aus ihm herauspressen, möglichst viele völlig unbeteiligte Personen in die Sache hineinziehen (manch einer ist so verzweifelt, daß er darum bittet, das Protokoll gar nicht mehr anhören zu müssen, wozu die Qual, bloß unterschreiben zu dürfen). Und erst dann, ganz zuletzt ihn aus der Einzelzelle zu den anderen sperren, wo er mit später Verzweiflung seine Fehler entdeckt und nachzählt.
Wie keine Fehler machen in diesem Zweikampf? Wer hätte sie nicht gemacht?
Wir sagten: «… im Idealfall allein sein.» In den gedrängten Verhältnissen des Jahres 1937 (ja auch 1945) konnte indes dieses Idealprinzip der Abschirmung des frisch eingelieferten Untersuchungshäftlings nicht voll zur Geltung gebracht werden. Fast von den ersten Stunden an geriet der Verhaftete in die dichtbesiedelte Gemeinschaftszelle.
Aber auch Vorzüge lagen darin, die die Mängel aufhoben. Das Übermaß an Zellenbelegung konnte nicht nur die Enge der Einzelbox ersetzen, sondern auch als erstklassige Folter sich erweisen, deren Wert dadurch gesteigert wurde, daß sie tage-und wochenlang dauern konnte, ohne die Kräfte der Untersuchungsrichter in irgendeiner Weise zu beanspruchen: Gefangene wurden ja durch Gefangene selbst gefoltert! Es wurden so viele hineingestopft, daß nicht jeder ein Stückchen Boden zu ergattern vermochte, daß Menschen über Menschen gehen mußten oder auch überhaupt sich nicht rühren konnten, einer dem anderen auf den Beinen saß. So wurden im Kischinewer Gefängnis 1945 in einer Einzel zelle achtzehn Mann zusammengepfercht, in Lugansk 1973 fünfzehn !, und Iwanow-Rasumnik saß 1938 in einer für fünfundzwanzig Mann berechneten Standardzelle der Butyrka mit hundertvierzig anderen zusammen (die Latrinen waren derart überlastet, daß die Häftlinge nur einmal in vierundzwanzig Stunden zum Austreten geführt wurden, und manchmal sogar nur bei Nacht, wie’s ähnlich auch mit dem Spaziergang war).
In jenem Jahr mußten die Eingelieferten (nach dem Bad und nach der Box) einige Tage lang auf den Stufen im Treppenhaus sitzen, ehe eine Partie ins Lager abging und eine Zelle freiwurde. T-w hat sieben Jahre früher, 1931, in der Butyrka gesessen; er erzählt: «Unter den Pritschen lagen sie dichtgeschichtet auf dem nackten Asphalt.» Ich selbst saß sieben Jahre später, 1945 – es war dasselbe. Doch vor kurzem erhielt ich von M. K. B-tsch einen wertvollen persönlichen Hinweis auf die Enge der Butyrka im Jahre 1918 : Im Oktober (im zweiten Monat des roten Terrors) war der Platzmangel so groß, daß sie sogar in der Wäscherei eine Frauenzelle für siebzig Insassen einrichten mußten! Ja, wann hat’s denn das überhaupt gegeben, daß die Butyrka leerstand?
Desgleichen hat er berechnet, daß in der Lubjanka-Aufnahme, im sogenannten «Hundezwinger», wochenlang auf je einen Quadratmeter Boden drei Personen kamen (messen Sie nach, versuchen Sie’s).
Auch das beileibe kein Wunderding: 1948 war im Innengefängnis von Wladimir eine Dreimaldrei-Meter-Zelle dauernd mit dreißig In-Stehenden belegt.
Der «Hundezwinger» hatte weder Fenster noch eine Lüftung, von der Körperwärme und dem Atem stieg die Temperatur auf 40 bis 45 Grad (!), sie saßen in Unterhosen auf ihren warmen Wintersachen, die nackten Leiber aneinandergepreßt, und bekamen Hautekzeme vom fremden Schweiß. Das dauerte Wochen, es gab keine Luft, kein Wasser (außer etwas Suppengebräu und Tee in der Früh).
Wenn dabei der Latrinenkübel in der Ecke allen Arten menschlicher Entleerung diente (oder umgekehrt es in der Zelle zwischen Austreten und Austreten so ein Ding nicht gab, wie in manchen sibirischen Gefängnissen); wenn viere aus einem Napf aßen, und dies aufeinander sitzend; wenn alle Augenblicke wer zum Verhör geholt und ein anderer vom Verhör zurückgebracht wurde, verprügelt, schlaflos und zerbrochen; wenn der Anblick dieser Wracks überzeugender war als alle Drohungen des Untersuchungsrichters; und wer seit Monaten nicht aufgerufen wurde, dem schien jeder Tod und jedes Lager verlockender als seine eingepferchte Lage – dann mag dies alles einen durchaus brauchbaren Ersatz für
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