Der Architekt
von dem, was aus ihm hervorsprudelte. »Was ist es genau, das sich da überträgt? Das von einem Menschen auf den nächsten überspringt?« Er blieb vor meinem Schreibtisch stehen und sah mich mit seinem glühenden Blick an. »Eine Stimmung, ein Gefühl,
was?
« Er zog den Kopf tief zwischen die Schultern. »Vor allem aber: Kann so eine Stimmung, so ein Gefühl sich nicht auch
in einem Gebäude
entzünden? In einer ganz bestimmten, ausgeklügelten Umgebung?«
Mein Blick hüpfte von einem seiner Augen zum anderen. Konnte das möglich sein?
Ich sah, wie sich ein Lächeln über sein Gesicht schob. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, Anwalt«, sagte er. »Sie sind nicht der Erste, der darüber nachgrübelt. Ich sage Ihnen, es geht! Das Haus ist ja nicht einmal leer. Es steckt voller Menschen. Es ist ein Hexenkessel, und darin brodelt eine Stimmung, die davon genährt wird, dass alle
eines
wissen: dass sie sich gemeinsam in einem Geheimhaus aufhalten. In einem Haus, in dem alles erlaubt, alles möglich ist!«
Er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Natürlich gibt es so etwas wie geistige, psychische Ansteckung! Was passiert denn bei einer sogenannten
folie à deux?
Ein Geisteskranker steckt einen völlig gesunden Menschen an. Und wie? Einfach weil er in dessen Nähe ist. Dem Gesunden wird nichts gespritzt. Er wird krank, weil er mit dem Kranken Umgang hat, verstehen Sie? Es färbt auf den Gesunden regelrecht ab, und er wird genauso verstört, verwirrt, gestört, wie es sein Partner zuvor schon war. Was in dem Innenhaus vor sich geht, ist allerdings mehr als nur eine
folie à deux.
Es ist wie ein Brandherd. Wenn man es betritt, ist der Wahnsinn mit Händen zu greifen.«
Er beugte sich so weit nach vorn, dass sein Gesicht nur noch zwei Handlängen von meinem entfernt war. »Haben Sie sich das nicht gefragt? Wie es möglich ist, dass Christine Götz ihre beiden Kinder erschlagen hat? Was mit ihrem Bruder Sebastian geschehen ist, mit Sophie?«
Sie waren in dem Innenhaus, fuhr es mir durch den Kopf. Sie sind mit der Stimmung, die darin herrscht, in Berührung gekommen.
»Genau.« Er zog die Luft hastig ein. »Es war wie ein Sog, Anwalt. Als könnte ich nicht anders. Nachdem ich von dem Haus erfahren hatte, konnte ich nicht zur Ruhe kommen, bevor ich es nicht betreten hatte. Die Idee hatte sich in meinem Kopf eingenistet, hatte sich in ihn hineingefressen.« Er richtete sich wieder auf, sein Blick hielt mich gefangen. »Und jetzt, jetzt, wo ich da war …«
»Was?« Ich hing an seinen Lippen, hörte, wie schwer er atmete.
Plötzlich kam es wie ein Röhren aus seiner Kehle.
»Ich weiß nicht, was es mit mir macht.«
Er riss die Hände vors Gesicht, die Worte spritzten darunter hervor. »Helfen Sie mir, Anwalt, bevor es zu spät ist, bevor auch ich mich verliere, versinke in dem Sumpf, den das Innenhaus in meinem Kopf erzeugt hat!«
Ich entschied, ohne auch nur einen Moment nachdenken zu müssen. Es war nicht das erste Mal, dass ich es mit einem Straftäter zu tun bekam, bevor er straffällig wurde. Aber ich war Anwalt, kein Arzt.
»Sie müssen sich dringend untersuchen lassen, Herr Lindenberger«, stieß ich hervor und beugte mich hinunter, um die unterste Schublade meines Schreibtischs herauszuziehen, in der ich mein Adressbuch aufbewahrte.
Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, sein Blick würde meinen Nacken durchbohren. Dann hatte ich das Büchlein in der Hand und tauchte wieder auf. »Hier, ich schreibe Ihnen eine Telefonnummer auf.«
Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Weit aufgerissen, schutzlos, verletzlich sahen seine Augen mich an.
»Ein Arzt, ein Freund von mir. Sie müssen sich noch heute dort melden, ist Ihnen das klar? Ich kann es vom medizinischen Standpunkt nicht beurteilen, aber der Umstand, dass Sie mich aufgesucht haben, zeigt, wie ernst es ist.« Ich versuchte, meine Stimme ruhig klingen zu lassen, schrieb die Adresse und die Rufnummer des befreundeten Arztes auf eine Karteikarte und stand auf. »Versprechen Sie mir, dass Sie ihn aufsuchen werden.«
Ich reichte ihm die Karte über den Tisch hinweg. Unschlüssig sah er darauf. Es kam mir so vor, als könnte ich ihm ansehen, wie sehr es in seinem Kopf tobte.
»Tun Sie es«, sagte ich leise, »ich bitte Sie.«
92
Der Abend, an dem ich mich auf den Weg machte, war kalt und ungemütlich. Es hatte seit Tagen geschneit. Die Stadt war von einem jener extremen Schneefälle heimgesucht worden, die es in Berlin erst seit ein paar Jahren zu
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