Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
freizuhalten. Es wurde Frühling – er kam aus der Steppe und zog über die Wälder, wie ein Hauch nur, kaum vernehmbar. Aber die Bäume reckten sich, die Erde wachte auf unter der schlammig werdenden Schneedecke. Die Kolchosen sahen die Traktoren nach, das Werkzeug, die Frauen knüpften neue Leinen und nähten Schürzen aus Sackleinwand.
    Die 683 Plennis sahen in die Sonne und über das Land. Wer sein »Hier!« geschrien hatte, sah nicht mehr auf Worotilow … er war schon in der Heimat, die dort lag, wo die Steppe an den Himmel stieß, wo die Wolga unterging in dem Blau, das die Sonne durchleuchtete … dort, wo Stalingrad lag … und weiter, immer weiter, westlich … Würde man losheulen, wenn man das erste deutsche Bauernhaus sah? Würde man stammeln, wenn man das erste deutsche Schild las … irgendwo an einer Straße, an einem Bauernhof, auf einem Feld … Was würde man tun, wenn die ersten deutschen Frauen und Mädchen winkend an den Zug eilten? Frauen und Mädchen … nach acht Jahren …
    Worotilow gab die durchgesehenen Listen an Leutnant Markow weiter. Dann sah er sich um … sah den Männern ins Gesicht, die im Viereck um ihn herumstanden. Blasse eckige Gesichter, gezeichnet von Hunger und Elend, einige dicke Gesichter, runde Körper, aufgeschwemmt vom Wasser … Hungerödeme, dachte Worotilow. Sie sehen aus, als hätten sie acht Jahre lang ganze Feldküchen leergefressen … und dabei sind sie völlig entkräftet und fallen um, wenn man sie anpustet.
    Außerhalb des Lagers warteten Kolonnen von Lastwagen. Hoch aufgetürmt lagen die Gepäckstücke daneben – Säcke, selbstgefertigte Rucksäcke, Kartons aus der Küche, ein paar Affen aus alten Wehrmachtsbeständen, sogar zwölf Koffer!
    In der Küchentür stand Michail Pjatjal und musterte die weggehenden Plennis. Unter ihnen ist der Mörder Baschas, dachte er verzweifelt. Man sollte sie alle töten, alle, diese deutschen Schweine. Er schaute mit Absicht weg, als Peter Fischer ihm zuwinkte. Er hatte Pjatjal die Trompete geschenkt, die Julius Kerner hinterlassen hatte, und dazu zehn Pakete Eiermanns Schnellpudding, was Pjatjal zu Tränen rührte. Aber jetzt, in der Stunde des Abschieds, zuckte das russische Herz Michails. Er dachte an Bascha und an Peter Fischer, und da er im Zwiespalt war, ob er zurückwinken sollte oder nicht, ging er in die Küche und warf die Tür hinter sich zu.
    Ein Hauptmann von der Transportkolonne trat in das Viereck zu Worotilow.
    »Sind wir fertig, Brüderchen?« fragte er leise. »Die Kerle müssen von Stalingrad heute noch weiter! Sie werden mit den Plennis der anderen Lager nach Moskau geschickt! Es eilt, Brüderchen …«
    »Sofort!« Worotilow drehte sich herum. Er sah noch einmal die Reihen entlang … Peter Fischer … Emil Pelz, der Sanitäter … Hans Sauerbrunn … Karl Eberhard Möller … Karl Georg, der Gärtner, der noch gestern an der Baracke stand und weinte … Dr. Schultheiß, der große, hagere, blonde Arzt, dessen Janina unter einem Steinhügel am Rande der großen Wälder an der Wolga schlief … Dr. von Sellnow, klein, drahtig, böse, sehr nervös, immer um sich blickend, als suche er etwas … Sie alle gingen nun fort … und es wurde einsam im Lager ohne sie. Es war, als gingen Brüder fort in ferne Länder, wo man sie nie wiedersah.
    Worotilow schluckte. »Lebt wohl!« sagte er laut. »Und vergeßt nicht in der Heimat, daß ihr frei wurdet durch die Gnade des großen Stalin, des Vaters aller Völker!«
    Die Plennis schwiegen. Sie sahen zu Boden. Worotilow brach ab und wandte sich um. »Lassen Sie die Kolonnen in Gruppen zu 50 abrücken zu den Wagen. Das Lager absperren, damit keiner mehr mit den Zurückbleibenden in Kontakt kommt!«
    Dann eilte er mit langen Schritten in die Kommandantur.
    Er hatte sich gerade die Mütze vom Kopf genommen und den Schweiß vom inneren Lederrand gewischt, als die Tür aufgerissen wurde. Dr. von Sellnow stand im Zimmer. Sein Blick war starr.
    »Wo ist Fritz?« sagte er laut.
    »Welcher Fritz?« fragte Worotilow unnötig.
    »Dr. Böhler!«
    »Ich nehme an, im Lazarett.«
    »Warum ist er nicht bei uns? Er wird doch auch entlassen!«
    Worotilow sah an die Decke. »Nein«, sagte er leise.
    Sellnow begriff nicht sofort den Sinn dieses Neins. Es war so ungeheuerlich, so plötzlich, so unfaßbar, daß er eine Weile erstarrt dastand, ehe er zusammenzuckte wie unter einem Schlag.
    »Sie haben mir gesagt, daß Dr. Böhler mit uns entlassen wird!« schrie er verzweifelt. »Sie

Weitere Kostenlose Bücher