Der Arzt von Stalingrad
schlagen. ›Ihr Deutsche seid doch Genies‹, grinst sie mich an, ›was braucht ihr teure Medikamente und Instrumente, das Genie behandelt mit der Improvisation … ‹ – das sagt mir dieses Mistvieh! Und wir müssen die Schnauze halten, wir müssen kuschen, wir müssen es schlucken, wir verdammten, rechtlosen, stinkenden Plennis. Aber ich werde hier nicht den Arzt spielen, ich nicht, Schultheiß!«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.
»Herein!« rief Sellnow mit Stentorstimme, und unser Sanitäter Pelz trat in den Raum.
»Tschuldjen Se, Herr Oberarzt, der Chef nicht hier?« rief Pelz aufgeregt: »Mit Nummer 4583 steht et schlecht … er hat große Schmerzen, und det Opium hilft nischt mehr!«
»Da haben wir's«, schrie Sellnow, »ich habe ja von Anfang an gesagt, daß diese konservative nichtchirurgische Behandlung einer Blinddarmentzündung ein Quatsch ist, jetzt haben wir die Bescherung …«
»Glauben Sie, Herr Oberarzt«, fragte ich leise und erschrocken, »daß der Appendix durchgebrochen ist?«
»Was haben Sie denn gedacht?« schrie mich Sellnow an. »Selbstverständlich ist das eine Perforation, der Mann muß sofort operiert werden.« Und dann schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn und schrie: »Aber womit, Schultheiß, womit, wir haben noch nicht einmal ein lausiges Skalpell!«
Sein Gesicht war knallrot angelaufen. Er sah geradezu beängstigend aus. Ich wollte etwas Beruhigendes sagen, als sich die Tür öffnete: Dr. Fritz Böhler, unser Chef, mußte sich etwas bücken, um mit dem Kopf nicht an den oberen Balken zu stoßen. Sein langes schmales Gesicht mit der überhohen Stirn, den mandelförmigen Augen, der langen Nase mit dem engen Sattel und dem zusammengekniffenen dünnlippigen Mund trug deutlich den Stempel, den ihm Jahre der Kriegsgefangenschaft aufgeprägt hatten. Das an den Schläfen ergraute Haar hatte die peinliche Ordnung verloren, auf die er so großen Wert legte. Seine schmutzige Wolljacke stand über der Brust offen, das Hemd darunter war zerknittert und feucht von Schweiß.
»Gehen Sie hinüber, Pelz«, sagte er leise, »und bereiten Sie den Patienten auf die Operation vor.«
Der Sanitäter Pelz sah ihn erstaunt an und ging dann wortlos hinaus.
»Und womit wollen Herr Stabsarzt operieren?« fragte Sellnow und machte nicht einmal den Versuch, den Hohn in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Natürlich mit dem Messer, Herr von Sellnow«, antwortete Böhler ungerührt.
Sellnow hob die Hand mit einer Geste, die ›wohl verrückt geworden‹ bedeuten konnte, dann besann er sich und ließ die Hand sinken. Er trat an Böhler heran und fragte heiser: »Mit welchem Messer?«
Böhler griff in die Tasche und zog dann die Hand wieder heraus. Als er sie öffnete, lag ein Taschenmesser darin. Ein gewöhnliches, altes zweiklingiges Taschenmesser, wie wir es alle als Jungen in billigen Geschäften kauften.
»Einer unserer Leute hat es mir gegeben«, lachte Dr. Böhler, »der gute Kerl hat verstanden, es vor allen Filzungen durch die Russen zu retten.«
Während wir den Gang entlanggingen, vorbei an den drei großen Zimmern, in denen über siebzig Kranke und Verletzte lagen, vorbei auch an den drei Zimmern, in denen die russische Ärztin, Dr. Alexandra Kasalinsskaja, arbeitete, stieß mich Sellnow an.
»Wer assistiert?« fragte er leise.
»Ich nehme an, Sie.«
»Ich habe keinen Mut mehr, Schultheiß. Mit einem Taschenmesser ein perforierter Appendix! Wenn ich jemals in die Lage kommen sollte, das im alten Deutschland zu erzählen, halten sie mich für einen wüsten Aufschneider. Mir ist lieber, Sie assistieren und ich mache die Narkose.«
»Aber … ich habe nicht viel Übung, und es wird sicher schwierig werden.«
»Das wird weder sehr schwierig noch sehr langwierig«, prophezeite Sellnow düster.
Wir betraten den ›Operationssaal‹. Es war ein etwas größeres Zimmer mit einem weißbezogenen Tisch. Auf ihm lag schon der Patient Nummer 4583. Emil Pelz stand neben dem Tisch und sprach leise auf den Kranken ein. Als wir eintraten, kam er uns entgegen und sagte nur für uns verständlich:
»Puls klein und ziemlich schnell, Herr Stabsarzt, schwankt zwischen hundertzwanzig und hundertvierzig, sieht nicht jut aus!«
Dr. Böhler wandte sich den auf einem Tisch stehenden Waschschüsseln zu. Pelz half ihm aus der Jacke, und Böhler begann sich zu waschen.
»Legen Sie dem Patienten einen Sandsack oder was Sie sonst haben unter die rechte Hüfte«, sagte er, »und reinigen Sie das
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