Der Arzt von Stalingrad
Vene. Evipan. Das beruhigte, das gab ihr Schlaf und stundenlanges Vergessen. Als er die Nadel herauszog, rannen Tränen aus Alexandras Augen. Dr. Kresin atmete auf. Sie weint, dachte er. Wenn sie weinen kann, ist die Macht des Schmerzes gebrochen.
Er dachte an Janina und das einsame Grab, um das die Wölfe heulten. Da legte er die Spritze auf den Tisch und verließ schnell das Zimmer. Später stand er am Fenster seines Sanitätsraumes und sah hinüber zu den Wagenkolonnen. Auch er empfand die Einsamkeit, die ihn nun umfing. Ich gehe in den Süden, dachte er. Ich melde mich fort! Warum hat mir Gott die empfindsame russische Seele gegeben …?
Die ersten Wagen fuhren an. Die Motoren heulten auf und übertönten die Rufe, die hinüberflatterten zu den Gruppen der Zurückbleibenden, die hinter dem Draht standen und sich gewaltsam bezwangen, nicht vor Schmerz zu schreien.
Arme winkten durch die Sonne … Worotilow stand am Fenster und winkte zurück … selbst Markow war sehr gedrückt und hob grüßend die Hand, als Karl Georg, sein Blumenfeind, an ihm vorbeifuhr. »Grüß mir Blummen in Deutschland!« schrie Markow zu ihm hinüber.
Durch die Wälder rauschte ein warmer Wind. Er trieb den letzten Schnee von den Zweigen. Das dunkle Grün der Tannen stand herrlich vor dem Blau des Himmels. Auf den Wachttürmen lehnten sich die Rotarmisten über die Holzbrüstung und winkten. Es war, als nähmen nicht Gefangene Abschied, sondern beste Freunde trennten sich nach vielen gemeinsamen Erlebnissen.
Die ersten Wagen rollten über die Straße, Stalingrad zu. Sie bogen in die Kurve ein und verschwanden hinter dem Wald. Die letzten Wagen wurden noch beladen.
An der Rampe eines Wagens kauerte Dr. von Sellnow. Schultheiß und Peter Fischer hielten ihn fest. Er hatte den Versuch gemacht, aus dem Auto zu springen. Jetzt lehnte er an dem eisenbeschlagenen Holz und blickte zurück auf das Lager.
Ein hoher Zaun aus Draht, so lang, daß man glaubte, er umspanne die ganze Steppe. Dazwischen wie dunkle Klötze die Wachttürme. Scheinwerfer, Maschinengewehre. Die Kommandantur, die große Küchenbaracke. Das große Lagertor, das die Nummer trug und einen Spruch von Stalin. Die Postenhäuser … dann die langen Baracken der Plennis … Block an Block … der lange, neue Bau des Lazaretts mit dem hohen steinernen Sockel … Dort, das vierte Fenster von rechts, war das Zimmer von Dr. von Sellnow … Dann kam der Raum für Dr. Schultheiß. Dort, die drei großen Fenster, das war der OP! Und dort … wo die Blumen stehen, da wohnt Alexandra Kasalinsskaja … Alexandra … du schwarzes Biest, du Weib, wie kein zweites, du wilde Katze … Wie feig war ich, wie elend! Ich habe dich verlassen ohne Abschied … wie ein Dieb stehle ich mich weg … und ich weiß, daß du mich geliebt hast mit aller Kraft … Verzeih mir … Alexandra … verzeih mir … Ich habe eine Frau und zwei Kinder … seit acht Jahren warten sie auf mich … Die große, schlanke, blonde, kühle Luise, die Aristokratentochter. Ich gehöre nun einmal zu ihr … ich kann es nicht ändern … Darum verzeih, Alexandraschka, und laß mich gehen zu Luise und den Kindern … Vergiß mich … ich werde dich auch vergessen …
Sellnow starrte hinüber auf das Lazarett. Dort, dieses Fenster … das mit den gerafften Gardinen aus Verbandmull … das ist das Zimmer Dr. Böhlers. Dort muß er weiterleben … Jahr um Jahr, in der Steppe, bei seinen kranken Plennis, die ihn lieben wie einen Vater … Dort wird er sitzen und nach Hause schreiben: Wartet, haltet aus! Auch ich komme einmal! Verliert nicht den Mut und den Glauben … Gott wird mich wieder zu Euch bringen, Ihr Lieben … Und er hätte mit uns fahren können, er hätte an unserer Seite sein können, wenn er nur dieses eine Mal sein Arzttum verleugnet hätte, statt sich dem Befehl des Kommissars zu widersetzen.
»Fritz!« schrie Sellnow. Er streckte beide Arme nach dem Lazarett aus. Seine Stimme überschlug sich. »Fritz!« Dr. Schultheiß und Peter Fischer hielten ihn fest. Weinend wie ein Kind lehnte er an der Rampe und sah das Lager verschwinden im Schnee, in der Steppe, in den Wäldern, im Blau des strahlenden Himmels, der den Frühling brachte.
Die Räder mahlten. Der Boden war schon weich und schwankte unter den schweren Wagen. Dreck spritzte hoch. Die Fahrer fluchten.
Auf dem Eis der Wolga standen die Kolonnen der Plennis und sprengten die dicken Schollen oder stießen die festgeklemmten Klumpen hinaus in das schon
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