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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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peitschend ins Gesicht. Sie duckten sich tief und stemmten sich dem Wind entgegen. Die Wachttürme, die Baracken, die Küche – alles lag wie hinter einem dichten Schleier. Die Spuren ihrer Füße verwehten sofort und füllten sich mit neuem Schnee.
    Vor der Kommandantur standen in langen Reihen die Plennis im Schneesturm. Sie froren und zitterten und drängten sich eng zusammen, um sich zu wärmen. Wie ein verschneiter Hügel sahen sie aus.
    Dr. Kresin nickte mit dem Kinn zu ihnen hin.
    »Die neuen Kommunisten. Ein kleiner Vorgeschmack zur Eignungsprüfung. Erst frieren sie, dann wird ihnen eingeheizt. Kommissar Kuwakino hat alte, erprobte Methoden der Auslese.« Er lachte dröhnend. »Der Dienst bei Mütterchen Rußland ist ebenso schwer wie der der Eunuchen im alten China …«
    Aus dem Vorraum der Kommandantur schlug ihnen heiße Luft entgegen und nahm ihnen einen Augenblick den Atem.
    Major Worotilow trat aus seinem Zimmer und nickte ihnen zu. Dabei fiel sein Blick auf die zitternden Gestalten vor dem Haus, auf diesen Haufen Leben im Schneesturm. Mit dem Fuß stieß er die Tür auf. Sein Gesicht war verschlossen, als er sich Dr. Böhler zuwandte.
    »Sie werden die Kerle dort untersuchen. Kleinste Fehler und Krankheiten scheiden aus! Ich bitte um strengste Maßstäbe.«
    »Um kasalinsskajanische Maßstäbe?« fragte Dr. Böhler.
    Worotilow wandte sich ab und schwieg.
    Kommissar Wadislav Kuwakino sah Dr. Böhler aufmerksam entgegen, als sie das große Zimmer betraten. Die fünf Schreiber schnellten empor und nahmen stramme Haltung an. Dr. Böhler überflog sie mit einem Blick. Die? dachte er. Die führen die Listen?
    Er hatte plötzlich keine Sorge mehr, ungerecht sein zu müssen. Und er übersah – vielleicht zufällig – die Hand, die ihm Kommissar Kuwakino entgegenstreckte.
    »Fangen wir an«, sagte er. »Sonst kann ich die Hälfte mit Erfrierungen ins Lazarett schicken …«
    Wadislav Kuwakino nickte wütend, mit zusammengebissenen Zähnen. Schnell zog er seine Hand zurück.

A US DEM T AGEBUCH DES D R . S CHULTHEISS :
    Seit Tagen hält der latente Zustand an.
    Janina ist apathisch und geduldig. Sie läßt sich untersuchen, spricht mit Worotilow, wenn er sie besucht, kein Wort und sieht mich an wie ein verwundetes Tier.
    Ich kann ihr nicht helfen, wenn sie selbst keine Lust mehr zum Leben hat. Ihr Körper könnte gesunden, aber ihre Seele ist krank, und von innen stirbt sie ab, während ihre Augen lächeln.
    Dr. Kresin tobte gestern mit mir. Er gab mir alle Schuld, bis er sich erinnerte, daß er es war, der mich damals mit zu Janina in die Tingutaskaja 43 nahm, um mein Urteil über ihre Tbc zu hören. »Der Oberarzt macht die Kasalinsskaja hysterisch, der Unterarzt bringt die Janina vor Liebeskummer ins Grab! Was ist das für ein Lager! Mensch, man könnte die Wände hochgehen …«
    Vergeblich hatte er versucht, mit Janina zu sprechen. Es war unmöglich, die Worte drangen nicht bis zu ihr. Kresin hatte gedroht, er hatte gefleht – schließlich war er zu mir gelaufen und hatte gebrüllt: »Sie Idiot, tun Sie der Janina doch den Gefallen und lieben Sie sie! Ich werde dafür sorgen, daß Worotilow euch nicht stört! Aber retten Sie mir das Mädchen, verdammt noch mal!«
    Janina lieben …
    Wie leicht er das sagte. Iß ein Brot, klang genauso. Oder: feg die Latrine … Mein Gott, sind wir geschmacklos geworden in den Jahren der Gefangenschaft. Unsere Herzen sind voll von Sehnsucht und Träumen, aber unsere Taten sind klein und armselig und überschattet von der Angst, nie mehr die Heimat zu sehen. Wir sagen es nicht … wir erzählen uns, wie schön es wird, wenn wir wieder in Deutschland sind, was wir alles tun und wie wir das Leben neu anfassen und wieder von vorn beginnen werden. Wir sprechen so viel von der Rückkehr, wir träumen von ihr, von den Frauen und Kindern, Müttern und Bräuten, den Schwestern, Brüdern, Vätern. Sie alle kehren wieder in unseren Worten, und wir freuen uns an diesen Gedanken und glauben an das Morgen … Aber wenn wir dann auf dem Strohsack liegen und über uns ist die Balkendecke der Baracke, wenn draußen der Schneesturm heult und die Wände vor Kälte knistern, dann werden wir schwach und elend und haben tief im Herzen doch keine Hoffnung mehr.
    Wir geben es nicht zu, weil wir uns unserer Schwachheit schämen, und wenn wir unsere monatliche Karte nach Hause schreiben, von der wir nicht einmal wissen, ob sie überhaupt ankommt – denn eine Antwort erhalten wir nie –, dann

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