Der Arzt von Stalingrad
…?« Sellnow sah vor sich hin in den Schnee. Mit den Schuhspitzen vergrub er die aufgelöste Zigarette. »Er hat nie mit mir wegen Alexandra gesprochen … aber er hat es gewußt. Dr. Kresin, ich gestehe es: Mir würde etwas im Leben gefehlt haben, hätte ich Dr. Böhler nicht kennengelernt.«
»Das habe ich auch zu Worotilow gesagt …«
»Sie auch, Kresin?« Er sah zu dem großen russischen Arzt auf. »Mein Gott, ich entdecke ja eine menschliche Seite bei Ihnen …«
Dr. Kresin verzog den breiten Mund. Sein Gesicht wurde rot.
»Dann vergessen Sie es schnell wieder, Sie deutsches Schwein«, und Sellnow lachte so laut, daß die Leute, die in das Parteihaus gingen, sich erstaunt nach den beiden Männern umblickten. Es begann zu schneien. Still und samtweich. Die dicken, weißen Flocken rieselten auf die Erde. Der Himmel war dunkelgrau. Von den Fabriken herüber gellten die Sirenen.
Mittagspause.
Dr. Kresin sah Sellnow an. »Gehen wir?«
»Ja.«
»Und mein Angebot?«
Sellnow steckte beide Hände in die Taschen. »Denken Sie einfach, Sie hätten es mir nie gemacht …«
Im Lager 5110/47 erschien wieder der politische Kommissar Wadislav Kuwakino. Er stand eines Morgens vor der Kommandantur im Gespräch mit Leutnant Markow und dem Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi.
Durch die Baracken geisterten die Flüsterparolen.
Er kommt wegen der Meldungen zur KP!
Es wird Ernst.
Peter Fischer und Julius Kerner sahen hinüber zu Karl Georg, der seit dem Einsetzen des Schneefalls arbeitslos geworden war, seinem Garten nachtrauerte und meistens auf der Pritsche lag und an die Balkendecke döste. Ab und zu ging er zur Latrine und blieb dort über eine Stunde hocken, las in der Prawda, die ihm ein russischer Posten schenkte, und begann, seine russischen Sprachkenntnisse zu vervollständigen.
»Der Kommissar ist da«, sagte Kerner unsicher.
»Hm.«
»Du hast dich doch auch gemeldet …«
»Ja.«
»Jetzt werden wir Kommunisten!«
Peter Fischer lachte gequält. »In der Heimat war ich Scharführer der SA.«
Karl Georg winkte von seinem Bett aus ab. »Danach werden sie nicht fragen. Es geht ihnen darum, daß sie für Deutschland Propagandisten bekommen! Ich habe gehört, daß wir alle nach Moskau und Molotow auf eine Schule kommen sollen – auf eine Komsomolzenschule …«
»Wie heißt das Biest?« fragte Kerner kritisch.
»Komsomolzen. Das ist eine Abkürzung von Kommunistitscheskij sojus molodeschi.«
»Meine Fresse!« sagte Peter Fischer erschüttert.
»Das ist so eine Jugendorganisation wie die HJ. Dort werden die Jungkommunisten ausgebildet und politisch gedrillt. Wenn wir das hinter uns haben, lassen sie uns auf die Menschheit los …«
»In die Heimat?«
»Nehme ich an …«
Peter Fischer schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Dann ist mir alles egal! Ich mache alles mit, wenn es nur nach Deutschland geht …«
»Komsomolzen«, sagte Julius Kerner sinnend. »Was wird meine Frau sagen, wenn ich als hundertprozentiger Kommunist nach Hause komme?«
»Die wird gar nichts sagen und dich zu sich ins Bett nehmen.« Karl Eberhard Möller, der gerade vom Küchendienst eintraf, warf seine verschneite Pelzmütze an den Ofen. Er lachte und legte eine Dose Rindfleisch, amerikanischen Ursprungs, auf den Tisch. »Hat einer von euch 'nen Büchsenöffner?«
Kerner wog die Büchse in der Hand und lachte: »Geklaut?«
»Die hat mir die Bascha gegeben.«
Karl Eberhard Möller begann, mit einem Messer den Blechrand aufzustemmen.
Solange man aß, sprach keiner mehr über den Kommunismus …
In der Barackentür erschien kurz darauf der Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi. Er überblickte den Raum, übersah die Fleischdose und wischte sich mit der Zunge über die Lippen.
»Nach dem Mittagsappell bleiben alle im Lager, die sich für die Partei gemeldet haben«, schrie er übermäßig. »Die anderen gehen zur Arbeit. Um drei Uhr ist Antreten auf dem Platz für alle Parteianwärter! Verstanden?«
Da keiner in der Baracke antwortete, schrie er noch einmal:
»Verstanden?!«
»Leck mich am Arsch!« rief einer aus der dunklen Ecke zurück.
»Na also.« Utschomi lächelte schwach. Hinter seinem schmalen Rücken krachte die Balkentür zu. Einen Augenblick wehte Kälte über die Tische, die der Tür am nächsten standen. Julius Kerner zog die Schultern zusammen.
»Es wird wirklich Ernst«, sagte er schwach. Er schob die Fleischdose weg – es schmeckte ihm nicht mehr.
Karl Georg sprang von seinem Bett auf und machte ein
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