Der Assistent der Sterne
ausgerüstet, er fror an den Beinen, seine Jeans ließen die Kälte ungehindert passieren. Vorgestern hatte er im Kaufhaus vergeblich nach langen Unterhosen gesucht: Es waren keine mehr vorrätig gewesen. Die Brügger Winter warenüblicherweise maritim mild, die Einkäufer waren von der Nachfrage nach Winterwäsche völlig überrascht worden. Gefütterte Handschuhe, Pelzmützen mit Ohrenklappen, dafür hätte man jetzt auch einen überteuerten Preis bezahlt. Aber solche Güter waren knapp, und so behalfen sich die meisten Brügger mit zwei übereinander getragenen Wollpullovern und fingerlosen Skihandschuhen. Auch Jensen hatte im Schrank noch eine alte, kaum gebrauchte orangefarbene Skijacke gefunden, die immerhin den Wind ein wenig dämpfte. Die Ohren wärmte er sich ab und zu mit den kalten Händen, das musste reichen.
Kurz vor der Nepomucenus-Brücke drehte er sich um, so als habe er einen Handschuh verloren. Wenn ich nur einen hätte!, dachte Jensen. Es fiel ihm leicht, so zu tun, als würde er einen Handschuh vermissen. Der Mann stand noch immer auf seinem angestammten Platz vor dem Hotel, eine dünne, in einen Regenmantel gewickelte Gestalt. Aus der Distanz konnte Jensen nicht erkennen, ob der Mann ihn beobachtete. Dennoch ging er im Gefühl weiter, verfolgt zu werden. Es war, als würde ihm jemand in den Nacken atmen. Er dachte, dass es vielleicht an der Brise lag, er schlug den Kragen der Skijacke hoch. Aber sein Nacken ließ sich dadurch nicht beruhigen. Er erreichte die Nepomucenus-Brücke, die sich noch an den Klang der Pestglocke erinnerte und die erbaut worden war, um das Jüngste Gericht zu überdauern. Gedrungen wölbte sie sich über den Dijverkanal, auf dem man zurzeit einen Teil der Altstadt zu Fuß hätte umrunden können, das Eis wäre dick genug gewesen. Zwei Frauen trippelten über die Brücke, sie hatten sich einen japanischen Gang angewöhnt, um auf den Pflastersteinen, puren Eiswürfeln, nicht auszurutschen. Rechts der Brücke befand sich die kleine Buchhandlung, deren Sortiment bescheiden war. Aber einen oder zwei Begleitromane hoffteJensen dort zu finden. Die Romane würden ihn nach Island begleiten, auf die große Reise, und nach drei Wochen würde er sie ungelesen wieder nach Brügge zurückbringen. Das war der Plan.
In der Buchhandlung glühten die Radiatoren, es roch nach verbrannter Luft. Jensen begann augenblicklich zu dampfen; er zog den Reißverschluss der Skijacke hinunter, es half nichts, er brach unter seinen zwei Pullovern in Schweiß aus.
Er war der einzige Kunde. Die Verkäuferin hockte mit einem Buch in der Hand hinter der Kasse. Sie blickte über den Rand ihrer Brille und schenkte Jensen ein kaltes Lächeln, er störte sie beim Lesen. Jensen fand es auf eine Weise unanständig, dass die Buchhändlerin während der Arbeitszeit selber Bücher las. Es war, als würde ein Arzt auf die Klage eines Patienten über starke Kopfschmerzen antworten: »Das ist noch gar nichts gegen meine Kopfschmerzen!«
Jensen suchte nach dem Regal mit den Klassikern, denn als Begleitromane waren Klassiker sehr viel besser geeignet als Neuerscheinungen, bei denen man nicht wusste, woran man war. Er wollte in Island nicht herausfinden müssen, dass das Buch eines zeitgenössischen Autors ihm völlig fremd war: und dann drei Wochen allein mit einem Buch, mit dem man sich nicht verstand. Jensen hatte Lust auf etwas klassisch Russisches, Tolstoi, Dostojewski, Gogol; diese drei Russen hatten sie, und von jedem ein einziges Buch. »Die toten Seelen« von Gogol, das hatte Jensen schon lange einmal lesen oder wenigstens ungelesen von einer Reise zurückbringen wollen. Er nahm das Buch aus dem Regal, und da das Regal nach hinten offen war, entstand eine schmale Lücke, durch die Jensen zwischen Dostojewski und Tolstoi den Mann sehen konnte. Er stand draußen vor der Buchhandlung und wischte sich etwas vom Regenmantel, bevor er die Tür aufstieß. über dem Rahmen der Tür hingen drei dünne Klangröhrchen, die nun ein sphärisches Bimmeln erzeugten.
Jensen trat hinter dem Regal hervor, er zeigte sich dem Mann, sagte aber noch nichts; er wollte abwarten, wie die Dinge sich entwickelten. Alkohol, Sehnsucht, das war es wohl doch nicht, denn von Nahem betrachtet wirkte der Mann keineswegs wie ein Verwirrter. Es war ein junger Mann aus Afrika, der eine billige Hornbrille mit wuchtigem Gestell trug, hinter der seine klugen, freundlichen Augen wie gefangen wirkten. Ein Student, dachte Jensen, der
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