Der Assistent der Sterne
nach Island«, sagte sie. »Ich komme hier gut allein zurecht. Und wenn du zurückkommst, erzählst du mir, was du alles gesehen hast.«
Es wurde dunkel im Saal, der Film begann. Jensen starrte auf die Leinwand, ohne etwas zu sehen.
Sie kommt allein zurecht, dachte er. Es war ihr Wappenspruch: SEMPER SINE AUXILIO.
Chorionzottenbiopsie, jetzt fiel es ihm wieder ein. So lautete der Terminus für die Untersuchung, der sie sich am Montag in seiner Abwesenheit unterziehen würde. Sie war zehn Jahre jünger als er, erst einundvierzig, ein Alter, um das Jensen sie manchmal beneidete. Eigentlich hätte man doch ihn untersuchen müssen. Aber Spermien waren verglichen mit Eizellen simple Gebilde, weniger komplex als auch nur ein Geißeltierchen. Spermien standen auf einer Stufe mit den Viren, und wenn ein achtzigjähriger Mann hustete, konnte er mit Leichtigkeit eine sehr viel jüngere Frau anstecken, das war das ganze Geheimnis später Vaterschaft.
»Ich muss Sie auf die Risiken hinweisen«, hatte Doktor Vermeulen gesagt.
»Ich weiß«, hatte O’Hara geantwortet.
Down-Syndrom, Häufung mit zunehmendem Alter der Frau. Vermeulen hatte zu einer Chorionzottenbiopsie dringend geraten. Jensen hatte am Fenster des Behandlungsraums gestanden, mit verschränkten Armen. Vermeulen hatte versucht, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Mit Blick auf den Monitor des Ultraschallgeräts hatte er gesagt: »Es sieht alles gut aus.« Außer, dass ich persönlich es für verantwortungslos halte, dass eine blinde Frau ein Kind zur Welt bringt. Es war Vermeulen auf der Stirn gestanden: Diese Schwangerschaft konnte er nicht gutheißen.
Jensen schaute eine Weile auf die Leinwand, auf der ein Mann und eine Frau sich das Leben zur Hölle machten. Dazu reichte ihnen ein Hotelzimmer. Der Film dauerte schon eine halbe Stunde, und das Paar saß immer noch dort drin. Es war im Grunde ein Hörspiel, ideal für O’Hara, diegespannt zuhörte, während Jensen ihre Hände betrachtete, die im Halbdunkel schimmerten. Bei Tageslicht konnte man an ihrem Handgelenk die punktförmigen Narben sehen, die vom Biss jener Felsenklapperschlange herrührten, von der O’Hara im mexikanischen Hochland gebissen worden war, sieben Monate war es jetzt her. Ein Fall, Jensens letzter als Inspecteur der Brügger Kriminalpolizei, hatte eine Reise nach Amerika und Mexiko erforderlich gemacht. Kurz vor seiner Abreise war O’Hara in sein Leben getreten, mit aller Entschiedenheit. Sie hatte von dem Fall im Radio gehört und wollte Jensen unbedingt nach Mexiko begleiten. Denn ihr Mann, John, dachte Jensen, John, das Gespenst, war vor zwei Jahren in Mexiko verschwunden. O’Hara hatte zwischen dem Verschwinden ihres Mannes und Jensens Fall eine Verbindung gesehen, zu Recht, wie sich später herausstellte.
John O’Hara. Ire, Arzt, Kosmopolit – und ihre einzige große Liebe, dachte Jensen. Ihr Herz war besetzt, damit musste er sich abfinden. Wegen ein paar Geldscheinen hatte ein mexikanischer Gelegenheitsverbrecher John O’Hara in eine Schlucht gestoßen.
»Ich liebe dich!«, sagte die Frau im Film.
»Das ist es ja, was mich anwidert«, antwortete der Mann.
Jensen betrachtete O’Hara, ihr Gesicht war der Leinwand zugewandt, zwischen ihren Knien ragte der Blindenstock empor, wie eine Fahnenstange, dachte Jensen. Es fehlte nur noch die Flagge, SEMPER SINE AUXILIO und darunter IN MEMORIAM JOHN O’HARA.
Lächerlich, dachte Jensen. Er war eifersüchtig auf einen Toten. Lächerlich war es deshalb, weil man gegen einen Toten nur verlieren konnte. Der Tote verharrte auf ewig im Zustand bester Erinnerung; die Fehler, die er zu Lebzeitengehabt haben mochte, erodierten, bis nur noch seine guten Seiten übrig blieben.
Nach ihrer Rückkehr aus Mexiko hatten Jensen und O’Hara in ihrem Haus am Kortewinkel viele Abende lang miteinander Tee getrunken, nur die erlesensten Sorten; jede Tasse war eine für John gewesen. O’Hara und John hatten zuletzt in Shanghai gelebt und unter anderem ihre Leidenschaft für Tee miteinander geteilt, sodass Jensen, der zur Entspannung ausschließlich Bier trank, sich bei jeder Tasse, die O’Hara ihm vorsetzte, ausgeschlossen vorkam. O’Hara hatte während dieser Phase der Teeabende und auch später nie über John gesprochen; dennoch hatte Jensen sich stets als Ersatz-Teetrinker gefühlt. Sie hatten sich damals konsequent beim Nachnamen genannt. Aber am letzten dieser Abende hatte sie gesagt: »Hannes. Es wäre schön, wenn du heute
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