Der Assistent der Sterne
Nacht hierbleiben würdest.« Am nächsten Morgen war sie für fünf Wochen nach Shanghai gereist, um die Wohnung zu verkaufen, die Möbel, alles, was sie an John noch hätte erinnern können. Sie hatte versucht, einen Schlussstrich zu ziehen, ihr Herz zu räumen, um frei zu werden für etwas Neues. Das jedenfalls hatte Jensen sich eingeredet, und er hatte gehofft, dass es ihr gelingen möge.
Der Film hatte einen langen Atem. Die Frau saß in Untersuchungshaft, der mit dem Fall betraute Kommissar verliebte sich in sie; natürlich war es eine obsessive Liebe. Der Kommissar versuchte den Mord einem anderen in die Schuhe zu schieben, darüber konnte Jensen nur lachen. Er versank vollends in seinen Erinnerungen.
Nach Shanghai war sie anders gewesen. Sie zog sich zurück. Sie sprach ihn wieder mit seinem Nachnamen an. Auf seine Bitten, sich mit ihm zu treffen, antwortete sie ausweichend. Sie verabredeten sich, aber dann vertagte sie die Verabredung wieder, sie schob sie hinaus, auf übermorgen,auf die nächste Woche, ihre Ausreden wurden immer komplizierter. Drei Wochen lang sprachen sie nur am Telefon miteinander, und dann, an einem verregneten Samstagmorgen, als er sie vom Den Comptoir aus anrief, einem Café, in dem er oft frühstückte, sagte sie: »Ich war beim Arzt.« Bei Doktor Vermeulen, der diese Schwangerschaft ablehnte und der jetzt eine Chorionzottenbiopsie für ratsam hielt, möglicherweise in der Hoffnung, dass eine Chromosomenschädigung dem Spuk ein Ende bereitete. Eine Blinde und ein Mann über fünfzig, der seinem Kind doch nichts anderes sein kann als ein Großvater!
Und eine Witwe, dachte Jensen, die einen Toten liebt.
Alles war in der Schwebe, nichts war entschieden. Nur, dass sie beide das Kind wollten, oder vielmehr: Es war nun einmal da. Entstanden zwar nicht aus Leichtsinn, sondern wegen eines Versagens der für die Verhütung zuständigen Chemikalien. Sie hätten sich aus der Verantwortung reden können mit der Begründung, dass es ein Unfall war, und niemand möchte für den Rest seines Lebens auf einer Unfallstelle leben. Darüber, immerhin, hatten sie miteinander gesprochen, und sie waren sich einig gewesen, dass es völlig falsch war, von einem Unfall zu sprechen. Es war kein Unfall, es war etwas, das schon in fünf Monaten die Wärme der Sonne auf der Haut spüren und sich in fünfzehn Jahren zum ersten Mal in die schönen Augen eines knochigen Jünglings verlieben würde. Die Frage war nur, in welchem Ausmaß Jensen am Leben dieses Kindes teilnehmen würde. Kurz nach jener ersten Ultraschalluntersuchung bei Doktor Vermeulen hatte Jensen O’Hara den Vorschlag gemacht, bei ihm einzuziehen, sobald das Kind da war. Sein Haus in der Timmermansstraat war zwar klein, aber man hätte den Abstellraum im oberen Stock mit wenig Aufwand in ein Kinderzimmer umbauen können. Außerdem war O’HarasHaus am Kortewinkel noch wesentlich kleiner; Wohnzimmer, Schlafzimmer, eine Küche, das war alles. Wo wollte sie denn dort ein Kind unterbringen? »Jensen«, hatte sie gesagt. »Mit dem Kind leben und mit dir leben, das ist nicht dasselbe.«
Vielleicht brauchte sie einfach noch Zeit.
Der Film war endlich fertig, der Kommissar tot. Nachdem er behauptet hatte, nur der Tod komme der Liebe gleich, hatte er sich den Lauf seiner angeblichen Dienstwaffe an die Schläfe gedrückt. Jensen erkannte die Waffe natürlich, es war eine Walther TPH, Kaliber 22, auch bekannt als Damenwaffe. Kein Polizist der Welt hätte diese kleinkalibrige Pistole als Dienstwaffe akzeptiert.
»Und?«, fragte O’Hara, als sie aus dem Kino in die eiskalte Nacht traten, eine scharfe Brise fraß sich in Jensens Gesicht, er drehte dem Wind den Rücken zu. »Wie hat dir der Film gefallen?«
»Gut. Ich hatte viel Zeit, um nachzudenken.«
Sie ging nicht darauf ein, sie sagte: »Ich bin müde. Lass uns nach Hause gehen.«
»Und wo ist das?«
»Ich wohne am Kortewinkel. Und du? Wohin gehst du? In die Timmermansstraat? Oder wohnst du immer noch im Hotel?«
»Ja.«
»Warum eigentlich? Warum wohnst du im Hotel? Ich finde das merkwürdig.«
»Ich lasse mir einen Kamin einbauen. Und Stijnen ist noch nicht fertig. Stijnen, so heißt der Hafner. Er soll gut sein.«
Die Straßenlampe auf der gegenüberliegenden Straßenseite flackerte, es sah aus, als würde sie einen Morsecode in die Nacht senden.
»Wofür brauchst du denn einen Kamin?« O’Hara lachte. »Verzeih mir, aber du und ein Kamin?«
Nein, nicht er und ein Kamin. Sondern sie, das
Weitere Kostenlose Bücher