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Der Atem der Angst (German Edition)

Der Atem der Angst (German Edition)

Titel: Der Atem der Angst (German Edition)
Autoren: Alexa Hennig von Lange
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wo sie gestern mit Louis im Kühlraum aufgehört hatte. Sich mit Sprühsahne vollsprühen und ablecken. Konnte man die Uhr nicht einfach zurückstellen, bis zu dem Zeitpunkt, wo noch alles gut gewesen war? Nein, das konnte man nicht. Sie würde Lou, Nini, ihre Eltern vermissen. Sie würde ihr Zuhause, die Welt vermissen. Den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter würde sie vermissen. Ihre beste Freundin Mascha. Das Vogelgezwitscher. Ihren Nagellack. Sie würde die Türklinke, den Teppich und ihre Füße vermissen.
    Michelle stieg die letzte Stufe hinunter und verschwand lautlos in die Küche. Dort zog sie leise die Terrassentür auf und trat hinaus in die feuchte Gartenluft. All das sah sie wie zum ersten Mal. Die Farben erschienen ihr viel leuchtender als je zuvor. In ihren Chucks lief sie über den weißen Kiesweg, der sich eng an die rückwärtige Häuserwand schmiegte, bis zur übervollen Regentonne. Am untersten Ast des Apfelbaums sah sie Ninis Schaukel. Sacht bewegte sie sich im Wind. Wie schön all das war. Sie hörte die Schulglocke. Gerade begann die zweite große Pause. Sogar die Schule würde sie vermissen.
    Plötzlich trennte sie eine undurchdringliche, durchsichtige Wand vom Rest der Welt ab. Sie stand zwischen ihr und dem Leben.
    In ihrer Hosentasche vibrierte ihr Handy. Eine SMS von Lou. » ICH BIN BEI DIR . WIE GEHT ES DIR ?«
    Michelle schluckte. Als hätte ihr Schatz es geahnt, was sie genau jetzt mit ihrem Telefon vorgehabt hatte. Bevor sie es sich anders überlegte, ließ sie es schnell in das grünschleimige Wasser der Regentonne fallen. Zur Sicherheit. Damit sie nicht doch noch in Versuchung geriet und Lou in einem schwachen Augenblick anrief und ihm von ihrem Auftrag erzählte. Er würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, sie an ihrem Opfer zu hindern. Er würde ihr versichern, dass die Polizei Leonie finden würde. Aber gleichzeitig würde er wissen, dass er log. Niemand würde Leonie finden. Michelle war die Einzige, die ihre Schwester nach Hause holen konnte. Lou hätte genauso gehandelt, wenn er damals die Gelegenheit dazu gehabt hätte. » Leb wohl, mein Schatz,« flüsterte sie. » Ich liebe dich.« Louis sank auf den modrigen Tonnenboden und leuchtete von dort unten ein letztes Mal auf.
    Es tat so weh. Aber sie musste sich von ihm abspalten. Wie dumm und unwissend sie gestern im Kühlraum noch gewesen waren. Komplett ahnungslos. Aber wie hätten sie auch wissen sollen, dass der Tod sie bald für immer trennen würde? Louis würde weitergehen. Ohne sie.
    Würde er irgendwann ein anderes Mädchen küssen?
    Über die Dächer der Nachbarhäuser floss die Vormittagssonne, gerade war es noch so irre kalt gewesen. Das Wetter war absolut seltsam. Ideal, um draußen vor dem Eiscafé zu sitzen, bevor es endgültig Winter wurde. Im Radio hatten sie gesagt, es würde ein warmer Tag werden. Für die Nacht war wieder Frost angesagt.
    Michelle zog die Schuppentür auf. Hier drinnen hing seit Jahren ein dickes Seil. Das brauchte sie. Mit der Schuhspitze trat sie gegen einen Blecheimer, der scheppernd umkippte. » Shit!« Beinahe hätte der Eimer es geschafft, dass sie doch noch losweinte und aufgab.
    Hinter der umgedrehten Schubkarre sah sie die ausgeblichenen Sandförmchen ihrer Schwester auf dem Boden liegen, mit denen sie früher in der Sandkiste Kuchen gebacken hatte. In den Ecken waberten Spinnennetze. Über dem aufgeschichteten Feuerholz hing das Seil, aufgerollt an einem in die Wand geschraubten Haken. Im Internet hatte sie eine detaillierte Anleitung gefunden, wie man einen Henkersknoten knüpfte. Das Seil musste stark genug sein, um das Vielfache des Gewichts des zu Hängenden auszuhalten, und es gab ein paar Feinheiten zu beachten, damit beim Hängen auch wirklich das Genick brach und man sich nicht einfach nur erwürgte, was viel länger dauerte und als Todesursache ziemlich übel war. Im Internet fand man echt richtig krankes Zeug.
    Von der Terrasse aus hörte sie jetzt ihre Mutter mit schwacher Stimme rufen. » Michelle? Bist du da draußen?«
    Sie hielt die Luft an und bohrte ihre abgekauten Fingernägel in den Handballen. Es kostete Kraft und Willen, nicht zu antworten. Ihre Mutter würde ihrer Stimme sofort anmerken, dass etwas los war. Das war das komplett Irre an ihrer Situation, dass sie sich am Tag, bevor sie sterben sollte, auch noch verstecken musste, damit sie bloß keiner mehr davon abbringen konnte.
    » Michelle! Louis ist am Telefon.«
    Oh Gott! Sie hatte es
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