Der Atem der Angst (German Edition)
auf einer Kiste.
Sie hatten wieder ein Mädchen gefangen.
Mayas Atem stach heiß in ihre Lunge. Ihr Vater hatte recht gehabt, die ganze Zeit. Das war kein Hirngespinst. Es gab sie, die Widerwärtigen, sie hatten wieder zugeschlagen und ihr Opfer direkt in Mayas Revier gebracht. Vermutlich wussten sie längst, dass sie wieder zurück war, und nun wollten sie ihr zeigen, dass sie die Jagd eröffnet hatten. Die Welt hatte sich nicht weitergedreht. Nichts war vorbei.
Der Wald um sie herum schien sie einzukreisen. Als käme von überallher etwas Unsichtbares auf sie zu. Sie saß in der Falle. Wenn sie jetzt nicht floh, war sie verloren. Dann würde sie als Nächste in einer Kiste enden.
In diesem Augenblick hörte Maya unter sich eine leise, flehende Stimme. Eine Stimme, die schwach um Hilfe rief.
Was sollte sie tun?
Helfen oder flüchten– für beides war keine Zeit.
Brett um Brett legten ihre Hände den Deckel der Kiste frei, während ihre Augen panisch die Umgebung absuchten. Überall hörte sie es knacken. Hörte Schritte, die sich ihren Weg durchs Unterholz bahnten, direkt auf sie zu. Erfüllt von panischer Todesangst und plötzlichem Lebenswillen, sprang sie auf und rannte los. Mit geducktem Kopf pirschte sie unter den tief hängenden Zweigen hindurch, sprang über umgestürzte Stämme, hervorstehende Wurzeln, wich Felsbrocken aus, die sich scharfkantig durch den Waldboden bohrten.
Mit der Hand umklammerte sie den Griff ihres Jagdmessers. » Ihr werdet mich nicht kriegen!«, hämmerte es in ihrem Kopf. » Ich werde kämpfen! Ich bin bereit!« Mit den Haaren blieb sie an Ästen hängen. Sie knickte Zweige und trat Farne platt. Sie hinterließ eine Spur, die direkt zu ihrer Höhle führte.
13 . MICHELLE
Michelle spähte von der untersten Treppenstufe aus ins Wohnzimmer. Seit dem frühen Morgen hockten ihre Eltern wie versteinert auf dem Sofa und versuchten durch intensives Nachdenken herauszubekommen, wo ihre Tochter womöglich versteckt gehalten wurde. Denn dass sie jemand mitgenommen haben musste, dessen waren sie sich inzwischen absolut sicher. Nur: Wer und warum? Ihnen gegenüber saß der Polizist, den die Kommissarin zu ihrer Betreuung abgestellt hatte. Dieser langhaarige Marathonmann, den Michelle schon ein paarmal auf dem Schlossberg hatte joggen sehen. Er hörte sich die Überlegungen ihrer Eltern an. Oder stellte komplett sinnlose Fragen. Am Esstisch saßen noch zwei übermüdete Polizisten und tranken Kaffee. Ununterbrochen knackten die Funkgeräte oder klingelte ein Handy. Der Marathonmann nahm irgendwelche Hinweise entgegen, die er in neue Anweisungen umwandelte. So würde das nie was werden.
Sie könnte jetzt einfach hinüber ins Wohnzimmer gehen und mit ein bisschen Verspätung sagen: » Ich habe doch noch eine wichtige Mitteilung zu machen. Gestern Nacht hat Leonies Entführer angerufen. Er will, dass ich mich für sie opfere.« Aber damit würde sie die einzige Chance verspielen, ihre kleine Schwester wieder lebend nach Hause zu holen. Sie oder sie. Zusammen würden sie nie wieder hier sein. Das war der Tausch, den sie machen musste.
Was brachte einen Menschen dazu, so etwas Grausiges zu fordern? Wer war dieser Mensch, der ihnen das antat? Kannten sie ihn? Sollte sie sich der Polizei anvertrauen? Was war richtig? Was war falsch? Michelle wusste es nicht. Isabels Mörder hatten sie damals nicht fassen können. Warum also dieses Mal? Sie saß in der Falle. Es gab kein Entkommen. Weglaufen brachte nichts. Reden brachte nichts. Suchen erst recht nicht. Sie hatte keine Wahl. Es war alles entschieden. Seit dem Moment, als sie ans Telefon gegangen war. Als Michelle das eingesehen hatte, wurde sie ganz ruhig und klar.
Sie musste sich jetzt auf ihre Aufgabe vorbereiten. Sie war nur noch ein paar Stunden am Leben. Eigentlich gab es sie schon nicht mehr. Sie gehörte nicht mehr zu denen, die weiterleben durften. Sie war nur noch ein Körper, der sich still durch ihr bekanntes Zuhause bewegte. Wie ein Zombie. Und doch fühlte Michelle ihr Herz heftiger denn je schlagen. Ihr Organismus arbeitete perfekt. Das Blut rauschte durch ihre Adern. Noch nie hatte sie sich so lebendig gefühlt. Sie musste jetzt die Sachen zusammensuchen, die sie brauchte, um sich erfolgreich das Leben zu nehmen.
Um sich selbst auszulöschen.
Bei diesem Gedanken knickten ihr die Knie weg. Sie taumelte und hielt sich am Treppengeländer fest. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte aus diesem Albtraum aufwachen, da weiter machen,
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